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Archiv-Artikel

Die Sicht der Anderen (3): Alfred Grosser, ein atheistischer Blick Die gemeinsamen Werte der europäischen Leitkultur

Der deutsch-französische Publizist Alfred Grosser, 82, bezeichnet sich selbst als jüdisch geborenen mit dem Christentum geistig verbundenen Atheisten. Im Jahr 2005 erschienen sein Buch „Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen“ FOTO: ARCHIV

Es gibt eine Europäische Leitkultur – mit und ohne Gott. Sei es nur, weil sich der Gott der Christen sehr verändert hat. 1914 noch predigten alle französischen und deutsche katholische wie evangelische Bischöfe den Hass gegen den Feind. Sie flehten Gott an, doch mit den Seinen gegen den bösen Feind zu kämpfen. „Gott mit uns“ stand auf den Gürteln der Uniformen. Der kämpfende, strafende Gott, der ist heute noch der der amerikanischen Fundamentalisten und von Präsident Bush. In Frankreich und Deutschland ist er der leidender Mensch Gewordene.

In Händels Messias ist heute die wichtigste Stelle das „He was despised“ (Er wurde verachtet), das vierte Lied des Gottesknechts bei Jesaia. Daher schreibt der katholische Erzbischof von Clermont: „Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, wollten wir einen Kreuzzug der Gläubigen gegen die Ungläubigen oder sogar eine heilige Allianz der Religionen gegen Agnostiker und Atheisten ausrufen. Das Unterscheidungsmerkmal ist nicht die Verkündung des Glaubens. Es ist die gemeinsame Haltung gegenüber dem verletzen Menschen.“

Schon 1954 stellt die SPD: „Die sozialistischen Ideen sind keine Ersatzreligion. In Europa sind Christentum, Humanismus und klassische Philosophie geistige und sittliche Wurzeln sozialistisches Gedankenguts“. Gibt es da noch einen großen Unterschied zum letzten Text von Johannes Paul II? Darin heißt es: „Die Aufklärung hat nicht nur die Gräuel der französischen Revolution hervorgerufen. Sie hat auch positive Erzeugnisse gehabt, wie die Ideen der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit, die auch in den Evangelien verwurzelt sind. Die Feststellung, dass dieser Prozess der Spuren der Aufklärung oft zur Wiederentdeckung der in den Evangelien enthaltenen Wahrheiten geführt hat, ist eine Quelle des Nachdenkens. Sogar die sozialen Enzykliken weisen darauf hin.“

Was sind nun die gemeinsamen Werte? In einer schönen Predigt am 4. April 2007 sagte der Erzbischof von Paris: „Wir glauben, dass die menschliche Würde nicht konfessionsgebunden ist und dass alle Frauen und Männer unserer Zeit berufen sind, in ihr zu leben und sie zu verteidigen.“ Dazu gehört zunächst einmal das Verständnis für das Leiden des Anderen. Warum stellte ich in meinem ersten Buch L‘Allemagne de l‘Occident 1945-1952 die deutschen Nächte unter den Bomben in Hamburg oder Dresden und das furchtbare Schicksal der zwölf Millionen Vertriebenen dar? Weil wir von keinem jungen Deutschen erwarten konnten, dass er das Ausmaß von Hitlers Verbrechen voll verstehe, wenn wir nicht ein echtes Mitgefühl für das Leiden der Seinen zeigten. Heute kann man von keinem jungen Palästinenser verlangen, die Auswirkung grausamer Attentate einzusehen, wenn man kein Mitgefühl beweist für die Erniedrigungen und das Elend in Gaza und in den „Gebieten“.

Das Verständnis für das Leiden Anderer setzt voraus, dass man erstens die Rache ablehnt. Im ergreifendem Gebet aus dem Frauen-KZ Ravensbrück heißt es: „Friede auch den Menschen, die bösen Willens sind und Ende aller Rache. In Erinnerung an unsere Feinde, sollten wir nicht als ihre Opfer weiterleben“.

Zweitens muss man Kant verstehen. Die Aufklärung ist eine Distanznahme zu sich selbst, damit man die Vielfalt der eigenen Identitäten versteht. Denn jede Reduzierung auf eine einzige Identität zeitigt Ausschluss der Anderen und Selbstghettoisierung.

Darüber hinaus gibt es andere gemeinsame anzustrebende Tugenden. Der Respekt, die Ehrfurcht – nicht vor den Mächtigen, sondern vor den Schwachen, den Benachteiligten. Von Seiten der Intellektuellen vor denen, die nicht wortgewandt sind. Aber auch vor den Schöpfern. Dass es darüber hinaus schön verkündete Europäische Werte gibt, kann man in manchen Texten nachlesen, aber auch in den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Alfred Grosser