: Die Schönheit des Aussterbens
In Marius Goldhorns neuem Roman arbeiten Kommunarden aus einem besetzten Museum in Brüssel heraus an einer neuen Geschichtsschreibung: Eine Forschungsreise ins Reich okkulter Blogger und linker Theoretiker

Von Johann Voigt
So viel vorneweg: Man kann dieses keinesfalls nur dystopische Buch auf zweierlei Arten lesen. „Die Prozesse“, der zweite Roman des jungen Schriftstellers Marius Goldhorn, stellt die große Frage danach, wie eine Zukunftsperspektive in unserer krisengeplagten Welt aussehen könnte. „Nichts Menschliches wird die nahe Zukunft erreichen“, heißt es an einer Stelle des Texts. Aber ist das wirklich der Fall und vor allem: Sieht das der Protagonist ebenso?
Also, zwei Lesarten: Abzweig eins funktioniert nach dem Motto „Lesen, was ist“. Eine Geschichte über ein zerfallendes Europa, das langsam austrocknet, das von den Folgen von Kriegen und Konflikten geplagt ist – mit einigen Nebenschauplätzen. Einem sich verselbstständigenden Computerspiel zum Beispiel, in dem die Figuren in abgekapselten Dorfgemeinschaften leben und Rituale an einer Weide abhalten, um die Rache der Toten abzuwehren. Ein freiberuflicher 3D-Designer, die Hauptfigur des Buches, hat die Weide für das Spiel designt.
Diese namenlose und auch weitestgehend geschlechtslose Hauptfigur bewegt sich mit ihrem reichen und schwerkranken Freund Ezra durch Brüssel. Dann brechen Proteste aus, weil ein Video aus einem libyschen Internierungslager die Runde macht. Das Haus der europäischen Geschichte wird besetzt, Polizisten laufen auf die Seite der Protestierenden über. Eine kleine Revolution. Aus den Protesten heraus entsteht eine Kommune, die ein wenig an die Ursprünge der Freistadt Christiania in Kopenhagen erinnert. Ezra, der unter dem Namen Deborn über die Schönheit im Aussterben der Menschheit bloggt und deswegen ein Problem mit utopischen Ideen hat, wird bei einer Ausstellung in Brüssel vor den Augen des Protagonisten angegriffen und verletzt.
Die beiden reisen fluchtartig ins brennende, vertrocknete Ligurien, in dem längst das Denguefieber ausgebrochen ist, ursprünglich eine Tropenkrankheit. Da wächst nichts mehr, da kann irgendwann nur noch Hirse überleben. Über Soldaten, die die Gegend unterworfen haben und die indische und afrikanische Erntehelfer in Townships verrotten lassen, heißt es: „Die Anhänger der Riconquista aber wollen lieber sterben, als afrikanische Hirse zu essen“. Der Hunger und die Dürre haben Europa erreicht, wohin viele aus genau diesen Gründen zuvor geflohen waren.
Ezra stirbt, der Protagonist findet sein Glück als Kommunarde in Brüssel. Er lässt seinen Pass verbrennen, er verrichtet einfache körperliche Arbeit, er beginnt an einer neuen Geschichtsschreibung mitzuarbeiten, indem er Bilder so bearbeitet, dass die „Verdammten“ verschwinden. Die Köpfe von Tätern werden aus Bildern retuschiert. Tribunale zu Kriegsverbrechern wie Assad werden in der Kommune als Theaterstück abgehalten. In der Kommune beginnt eine neue Zeitrechnung.
Man kann Goldhorns knapper, hochpräziser Sprache folgen, die man schon aus seinem Debütroman „Park“ kennt. Kein Wort zu viel steht in diesen entrückten Szenen, kein aufgeplustertes Adjektiv. Die Sätze sind wie eine Art Vorstudie für ein Schreibprojekt des Protagonisten angelegt, dem man folgt. „Ich habe schon alles aufgeschrieben“, sagt dieser am Ende des Buches zu einer Freundin. „Alles?“, fragt sie. „Ich bin noch im Juli, jetzt ist schon wieder August. Ich nähere mich dem Jetzt, dem Ende.“
Die Poesie dieses Romans wird getragen von nüchternen, emotional etwas entrückten Beschreibungen der Hauptfigur, die über Deborn, das Alter Ego von Ezra, sagt: „Jedes Sprechen über Hoffnungen, Revolutionen, Projektionen, Zukunftspläne fand er schrecklich. Er wollte über das Jetzt sprechen, den Moment, in dem nichts geschah, müde flüstern. Unter dem Horizont des Aussterbens lag der Frieden.“
Marius Goldhorn: „Die Prozesse“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 288 Seiten, 23 Euro
Womit wir beim zweiten Abzweig sind. Der funktioniert wie eine Forschungsreise, die einen zu Nischenbloggern, Theoretikern mit Hang zum Okkulten und dem Nachdenken über Degrowth, also die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, führen und schließlich zum linken Konzept der Räterepublik. Man findet Spuren zum von Amphetaminen angeregtem Denken von Theoretikern aus Großbritannien wie dem nach rechts außen abgedrifteten Philosophen Nick Land und dem mittlerweile verstorbenen Mark Fisher. Der setzte sich aus einer linken Perspektive mit dem Überwinden des Kapitalismus auseinander. Auch der Philosoph Reza Negarestani, der den Nahen Osten als ein fühlendes Wesen beschreibt und Erdöl als Schmiermittel historischer und politischer Narrative sieht, taucht indirekt auf. Tatsächlich brennen in Ligurien plötzlich Ölfelder, und Ezras Arzt, der eher wie ein Einflüsterer wirkt, ist nach ihm benannt.
Goldhorn offenbart, wenn man diesen Denkschulen folgt, in seinem Buch den Konflikt zwischen einem radikalen, vom Menschen entrückten Akzelerationismus, also einer zerstörerischen Hyperbeschleunigung, deren Spuren sich in Goldhorns kaputter Welt widerspiegeln, und einer parallel dazu verlaufenden Abwendung von staatlichen Strukturen, kapitalistischer Hegemonie und damit auch von Demokratie im Rätesystem der Kommunarden, die sich hier als das vorerst bessere System entpuppt. Im Vergleich zu „1979“ von Christian Kracht, wo ein Protagonist ebenfalls seinen Partner verliert und schließlich in einem chinesischen Arbeitslager landet (was ihm durchaus zu gefallen scheint), begibt sich Goldhorns Hauptfigur selbstgewählt in das neue System und begreift Arbeit als menschlichen Selbstzweck.
„Endlich konnten wir uns ausruhen und vergessen. Die gesamte Kommune war eine riesige, hochkomplexe Maschine des Vergessens und Neuschreibens“, reflektiert der Protagonist an einer Stelle. „Schnell wurde mir klar, der Einzelne existierte hier nicht, niemand schenkte einem individuellen Ausdruck Beachtung, Körper flossen ineinander“, an einer anderen.
„Die Prozesse“ ist ein hochpolitisches Buch, aber keinesfalls Agitprop. Es offenbart eine Vorstellung davon, wie man den von Fisher entworfenen kapitalistischen Realismus überwinden kann – zumindest im Kleinen. Wie man rechten Disruptoren von Nick Land über Peter Thiel bis hin zu Javier Milei etwas entgegenhalten kann.
Goldhorn schreibt dabei aber nicht wie, sagen wir, Peter Weiss in seinem schwer zu durchdringenden Monumentalwerk „Die Ästhetik des Widerstands“, das nur den Abzweig des Forschungsreisenden zulässt, um die Revolution greifen zu können. Denn „Die Prozesse“ ist neben all den theoretischen Verlinkungen vor allem auch eine gute Geschichte, die von menschlichen Beziehungen und einer Selbstgewisswerdung handelt und die in einer greifbaren Welt verankert ist. Es ist dann sehr angenehm, wenn Goldhorns Protagonist irgendwann einfach nur Moules-Frites essen möchte. Das ist diese eigentümliche belgische Delikatesse, bestehend aus Miesmuscheln im Gemüsesud und Pommes. Lecker.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen