: Die Schieberei der Stimmen
■ Infas-Analyse stellt »erhebliche Umschichtungen« bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus fest/ Stimmen der AL gehen in Hochburgen an PDS und Bündnis 90, im übrigen an alle anderen Parteien
Berlin. Die politische Szenerie in Berlin ist in den Wochen vor der Wahl unübersichtlicher, die Wählermotive undurchschaubarer geworden. Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus hat dies nach der Analyse des Instituts für angewandte Sozialwissenschaften (Infas) zu »erhebliche Umschichtungen« geführt. Manches spricht dafür, daß die Berliner Aspekte bei der Wahlentscheidung eine große Rolle spielten und die gewaltigen Verwerfungen der Parteienlandschaft durch stadtpolitische Ereignisse ausgelöst wurden. Aber sicherlich hat die Tatsache, daß auch über den Bundestag abgestimmt wurde, nicht nur die Wahlbeteiligung in die Höhe getrieben, sondern auch den eindrucksvollen Pendelschlag von Rot-Grün zu Schwarz- Gelb noch weiter verstärkt.
Die Wanderungen zwischen den Parteien waren in West-Berlin erheblich stärker als in Ost-Berlin: Die SPD hat Wähler an die CDU und an die FDP abgegeben; sie hat aber auch von den Alternativen zurückgewonnen. Die CDU hat von den »Republikanern« Wähler gewonnen, die zwei Jahre zuvor mit der Senatspolitik, aber auch mit der Oppositionspolitik unzufrieden und nach rechts abgedriftet waren. Von der Wahlbeteiligung in West-Berlin hat in allererster Linie die CDU profitiert. Sie hat ihr Wählerpotential voll ausgeschöpft, während die SPD so gut wie keine Mobilisierungsgewinne verzeichnete.
Die größeren Wanderungsströme lassen sich nicht im gesamten Stadtgebiet identifizieren, aber an einzelnen Bezirken und Wahlkreisen festmachen. Die größte Verschiebung hat zwischen der SPD und der CDU, aber auch der FDP stattgefunden. Dieses Muster ist ganz besonders klar ausgeprägt in den traditionellen Arbeiterbezirken Neukölln und Reinickendorf, in denen die AL wenig Rückhalt hat. Dort lagen die SPD- Verluste bei über zwölf, die CDU- Gewinne bei über 15 Punkten.
Der zweite Typ von Wahlkreisen ist durch weit überdurchschnittliche Verluste von mehr als sieben Punkten der Grün-Alternativen gegenüber Januar 1989 gekennzeichnet. Dabei sind zwei Gruppen von Gebieten zu unterscheiden. Auf der einen Seite stehen die östlichen Kreuzberger Wahlkreise, bei denen die AL- Verluste praktisch voll auf das Konto von PDS und Bündnis 90 zu verbuchen sind. Auf der anderen Seite gibt es Wahlkreise, in denen die alternativen Stimmen teils zur SPD und teils direkt zu CDU oder FDP gegangen sind.
Im Ostteil der Stadt waren die Bewegungen nicht annähernd so stark ausgeprägt wie in West-Berlin. Die Wanderungsbilanz belegt größere Ströme von der SPD zur CDU und Gewinne der FDP von allen Seiten. Die PDS verlor in alle Richtungen, vor allem aber an die SPD. Massive Einbußen durch die insgesamt um 14 Punkte gesunkene Wahlbeteiligung gab es für SPD und PDS. Die Veränderungen von CDU, FDP und SPD waren im Vergleich zu den scharfen Konturen in West-Berlin im ganzen östlichen Stadtgebiet nahezu gleichförmig.
Die größten Veränderungen weist die PDS auf. Nicht wenige überzeugte PDS-Anhänger werden der Wahl ferngeblieben sein. Doch ist es der PDS gelungen, immerhin noch in 12 Wahlkreisen mit den Zweitstimmen als stärkste Partei aus der Wahl hervorzugehen. Die stärksten Verluste mit teilweise über zehn Prozentpunkten gegenüber der Volkskammerwahl hat die PDS in den Neubaugebieten am Stadtrand, insbesondere Marzahn und Hellersdorf, zu verzeichnen. Etwas weniger starke Einbußen gab es in den Prominenten- Vierteln und den Wohngebieten von ehemaligen Stasi- und Verwaltungsmitarbeitern in den Bezirken Mitte, Friedrichshain, Pankow und Lichtenberg.
Die genauere Analyse legt den Schluß nahe, daß einige der Abwanderer eine neue politische Heimat bei der CDU gefunden haben. Diese Neuorientierung würde dem Muster entsprechen, dem Arbeiter und kleine Angestellte in ähnlichen Wohnsituationen und Sozialmilieus auch im Westteil der Stadt in den letzten Jahren gefolgt sind. Dabei gibt es auch Bewegungen von der PDS zur SPD, wobei die Gewinne der SPD von Abwanderungen zur CDU überlagert werden. dpa
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