Die RAF-Heimkehrer aus dem Osten packen aus: Aus dem Innenleben der Guerilla
■ Detailliert wie nie berichten RAF-Aussteiger seit ihrer Festnahme im Sommer über Orientierungsprobleme nach dem Deutschen Herbst 1977. Der historische Nachhilfeunterricht stellt Staatsschützer wie RAF-Anhänger vor Probleme — die einen, weil manches Urteil der 80er Jahre auf windigen Indizien basiert, die anderen, weil jetzt die weitere Entmythologisierung der Guerilla bevorsteht. So glaubte die RAF-Kommandoebene selbst „eher nicht“ an die „Morde von Stammheim“.
VON GERD ROSENKRANZ
Die Stimmung im Trainingscamp nahe der südjemenitischen Hauptstadt Aden erreicht nach wenigen Wochen den Nullpunkt. Aber es ist nicht der Lagerkoller, der die RAF-GenossInnen Brigitte Mohnhaupt, Rolf-Klemens Wagner und Sieglinde Hofmann auf die Palme bringt, es ist angestaute Wut. Ohnmächtig und mit wachsender Verbitterung haben die drei während ihres gut sechsmonatigen Zwangsurlaubs in der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad aus der Ferne beobachten müssen, wie der Rest der Truppe zu Hause in „puren Aktionismus“ verfiel und dabei auch noch blutig dezimiert wurde. Willy- Peter Stoll war in diesem Herbst 1978, ein Jahr nach dem „Deutschen Herbst“, unter Polizeikugeln in einer Pizzeria gestorben, Michael Knoll im Verlauf einer wilden Schießerei in einem Waldstück bei Dortmund (und mit ihm der Polizeibeamte Hans-Wilhelm Hansen). Angelika Speitel lag mit einem durchschossenen Oberschenkel im Haftkrankenhaus. Der verstörte Rest der Gruppe ersann noch dazu blutige Rachepläne: nichtsahnende Polizeibeamte sollten auf tödliche Tretminen gelockt werden. Die Aktion mit der schönen Code-Bezeichnung „Joghurt-Topf“ wurde erst nach einer Intervention inhaftierter Genossen abgebrochen.
Während bei den Staatsschutzbehörden im Dezember 1978 noch darüber gerätselt wird, wohin sich das Quartett Mohnhaupt, Wagner, Hofmann und Boock nach der für die deutschen Fahnder bitteren Entlassung aus jugoslawischer Auslieferungshaft wohl bewegt haben mag, ist in dem von Palästinensern geleiteten Ausbildungslager bei Aden schon fast die gesamte aktive RAF beieinander. Die Kämpfer aus Europa haben sich seit Mitte Dezember pärchenweise und auf verschlungenen Pfaden in den Nahen Osten abgesetzt (Peter-Jürgen Boock ist aus Belgrad zwar mit Mohnhaupt, Wagner und Hofmann in Aden angereist, nimmt aber an der Ausbildung im Lager nicht mehr Teil).
In den Pausen zwischen kampf- und waffentechnischen Trainingseinheiten wird Tacheles geredet. Die Diskussionen erreichen bald ein „übles Stadium“, erinnert sich ein Teilnehmer heute. Im Mittelpunkt der Kritik: Christian Klar und Adelheid Schulz, denen vom „Belgrader“ Trio vorgeworfen wird, ebenso blödsinnige wie folgenlose Aktionen gestartet zu haben, statt den lange geplanten Anschlag auf den Nato-Oberbefehlshaber in Europa, General Alexander Haig, endlich auszuführen. Dazu gibt es Ärger satt mit den von Selbstzweifeln geplagten „Problemkindern“ Susanne Albrecht und Werner Lotze.
Guerilla-Alltag. Vielleicht mehr noch als Details über die Anschläge der RAF in den Jahren nach dem Deutschen Herbst werden nun die „Alltagsberichte“ der kooperationsbereiten RAF-Aussteiger aus der ehemaligen DDR zur Entmythologisierung der Gruppe beitragen. Wenn in den kommenden Monaten ein DDR-Heimkehrer nach dem andern vor Gericht erscheint und auspackt, werden zwei auf beiden Seiten der Barrikade gern gepflegte Schablonen wohl endgültig der Vergangenheit angehören: die RAF als Ansammlung blutrünstiger krimineller Killer sowie die RAF als verschworenes, kompromißlos-revolutionäres Kollektiv.
Zu den fehlgeschlagenen Aktionen der dezimierten Truppe des Jahres 1978 gehörte auch der aufsehenerregende Versuch, Stefan Wisniewski „von oben“ aus dem Hochsicherheitstrakt der JVA Frankenthal zu befreien. Der wegen seiner Beteiligung an der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer später zu lebenslanger Haft verurteilte Wisniewski war erst im Mai in Paris festgenommen worden. Die aktiven Mitglieder der Gruppe hielten ihn zu dieser Zeit für unersetzlich. Zur Vorbereitung der Befreiungsaktion starteten Klar, Stoll und Schulz mit gecharterten Hubschraubern zu ausgedehnten Ausflügen über die Haftanstalt, bis eine mißtrauische Pilotin die Fahnder informierte und so der Befreiungsaktion ein vorzeitiges Ende bereitete. Nach der Rückkehr von einem weiteren Helikopter-Trip entkamen die drei „Top-Terroristen“ knapp einem Troß von immerhin sieben Observationsfahrzeugen — die wohl größte Fahndungspanne in der Geschichte der RAF.
Werner Lotze, der zu jener Zeit gerade aus der Sphäre der legalen Unterstützer in den Untergrund wechselte, erzählte jetzt den Bundesanwälten in Karlsruhe, wie Wisniewski von der bevorstehenden Aktion unterrichtet wurde. Der Gefangene mußte dafür diverse konspirative Nachrichten als solche erkennen und wie ein Puzzle zusammensetzen: mal wurde sein Anwalt beauftragt, dem Häftling verbal verschlüsselte Nachrichten zu übermitteln, mal Wisniewskis Schwester, geheime Mitteilungen in ihren Briefen zu verstecken. Besonders die Rolling Stones hatten es den Revolutionären angetan: Mit den quietschend ins Schloß fallenden Gefängnistüren im Titel „We love you“ wurde Wisniewski die freudige Nachricht von der bevorstehenden Freiheit übermittelt. Weder Anwalt noch Schwester waren über den konkreten Sinn derartiger Hinweise unterrichtet. Weitere Anweisungen konnte der Gefangene in seiner Post auf der Rückseite der benutzten Briefmarken finden.
Wenig später begannen die Aktivisten im Raum Frankfurt unter dem Codebegriff „Cäsar“ mit der Ausspähung eines prominenten Bankiers. Nach einer ersten Befragung Lotzes im Juli ordneten die Fahnder „Cäsar“ dem heutigen Chef der Deutschen Bundesbank, Karl Otto Pöhl, zu. Ein Irrtum, wie sich kürzlich beim zweiten Vernehmungsdurchgang herausstellte: Tatsächlich stand nicht Pöhl auf der RAF-Attentatsliste, sondern der damalige Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Wilfried Guth. Guth war Vorgänger von Alfred Herrhausen.
Auch die Vorbereitungen für das Attentat auf Guth wurden abrupt abgebrochen, als die jugoslawischen Behörden das Belgrader RAF-Quartett im November 1978 ausfliegen ließen. Statt dessen begannen noch im selben Monat in einer konspirativen Wohnung in der Frankfurter Textorstraße jene quälenden Auseinandersetzungen über Selbstverständnis und künftige Strategie der RAF, die schließlich im militärischen Ausbildungslager bei Aden in Anwesenheit der „Belgrader“ Kritiker fortgeführt wurden. Greifbares Ergebnis: Das Attentat auf General Haig sollte unter dem Codenamen „Hengst“ möglichst bald über die Bühne gehen.
Vollmundig hat jetzt Generalbundesanwalt Alexander von Stahl in der vorletzten Woche erklärt, mit den Aussagen der DDR- Heimkehrer sei „das terroristische Tatgeschehen der Jahre 1977 bis 1981 zu einem wesentlichen Teil aufgeklärt“. Mehr noch: Es habe sich „im wesentlichen all das bestätigt, wovon bis zu den Festnahmen in der DDR ausgegangen worden war“.
Mindestens diese zweite Aussage birgt mehr als einen Hauch von Wunschdenken. Insbesondere das konkrete Tatgeschehen ist in den Prozessen der 80er Jahre oft mangelhaft, wenn nicht vollständig falsch rekonstruiert worden. Das gilt nicht nur für die versuchte Entführung des Bankiers Jürgen Ponto — hier wurden von von Stahl Fehler eingestanden —, auf den nach den Aussagen Susanne Albrechts nicht Brigitte Mohnhaupt, wie bisher behauptet, sondern Christian Klar das Feuer eröffnete. Es gilt ebenso für die Schießerei in dem Dortmunder Waldstück, in deren Verlauf der Polizeimeister Hansen und der RAF-Aktivist Michael Knoll tödlich getroffen wurden. Angelika Speitel soll bei dieser Schießerei mehrere Schüsse „auf den bereits kampfunfähig und wehrlos vor ihr am Boden liegenden Hansen gerichtet“ haben, so das Urteil. Dafür erhielt Speitel „lebenslänglich“, ehe Richard von Weizsäcker sie in diesem Sommer nach zwölf Jahren Haft begnadigte.
Die Karlsruher Staatsanwälte waren regelrecht konsterniert, als Werner Lotze jetzt den Hergang der Schießerei vollständig anders schilderte, dabei sich selbst bezichtigte, den ersten, vielleicht schon tödlichen Schuß in den Rücken Hansens abgegeben zu haben, und gleichzeitig Angelika Speitel entlastete. Die Vernehmungsbeamten trauten zunächst ihren Ohren nicht. Sie hielten Lotze das Urteil gegen Speitel vor und erkundigten sich vorsichtig, ob der RAF-Aussteiger eventuell in dieser Situation einen „Blackout“ gehabt haben könnte. Doch der blieb bei seiner Darstellung. In der Erklärung des Generalbundesanwalts heißt es dazu: „Später (nach den Schüssen Lotzes) wurden auf Hansen noch weitere Schüsse durch einen anderen Tatbeteiligten abgegeben.“ Gemeint ist Michael Knoll, der dann selbst erschossen wurde. Keine Rede mehr von Angelika Speitel.
Ein ähnlich blaues Wunder könnten die Staatsschützer erleben (oder schon erlebt haben), wenn die DDR- Aussteiger über das Attentat auf den damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback — er war 1977 von einer Suzuki 750 aus in seinem Dienstwagen erschossen worden — näheres berichtet haben sollten. Als Schütze verurteilt wurde Knut Folkerts — trotz dürftiger Beweislage.
Vollständig im Dunkeln tappten die Fahnder bis zum Sommer über die Urheber des mißlungenen Anschlags auf den Nato-Oberbefehlshaber in Europa, Alexander Haig, im belgischen Mons. Nach dem Attentat waren gar Zweifel aufgekommen, ob die RAF überhaupt — trotz wortreicher Bekennerschreiben in mehreren Sprachen — Urheberin der Aktion war. Manche tippten eher auf die IRA. Nach den Detailaussagen von Henning Beer, Silke Maier-Witt und wiederum Werner Lotze, der mit Rolf Klemens Wagner direkt an der Tatausführung beteiligt war, sind jetzt alle Zweifel beseitigt: Die meisten der damals aktiven RAF-Mitglieder haben die aufwendige Aktion monatelang gemeinsam vorbereitet. Schon vor dem großen Knall wurde die „Basis Brüssel“ in Erwartung eines extremen Fahndungsdrucks mit Sack und Pack in Richtung Paris geräumt — eine eigens dafür abgestellte Gruppe löste konspirative Wohnungen auf und schaffte Waffen, Fotoausrüstung und Kleidung nach und nach über die Grenze.
Am Tag des Anschlags war neben den beiden unmittelbar Beteiligten nur noch Sieglinde Hofmann im Lande. Die drei folgten den GenossInnen binnen Wochenfrist unbemerkt in die französische Hauptstadt. In Brüssel und Umgebung fanden die Fahnder buchstäblich nichts, was Rückschlüsse auf die Täter ermöglicht hätte.
Henning Beer brachte mit seinen Aussagen Licht in den gescheiterten Bankraub auf die Schweizerische Volksbank in Zürich. Dabei waren im November 1978 bei einer Verfolgungsjagd durch die Fußgängerzone eine unbeteiligte Passantin erschossen und eine zweite durch Schüsse verletzt worden. Zwar konnte Rolf Klemens Wagner unmittelbar nach der Tat gestellt und festgenommen werden und war Klar als einer der drei flüchtigen Täter im Gespräch. Doch erst seit der Aussage von Henning Beer ist bekannt, daß er selbst und Peter-Jürgen Boock das Quartett von Zürich komplettierten.
Probleme haben Staatsschützer und RAF-Szene gleichermaßen mit der bedingungslosen Aussagebereitschaft der DDR-Aussteiger. Der Generalbundesanwalt beeilt sich zu betonen, es gebe „in keinem Fall Anlaß, rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen zu revidieren“. Aber das liegt weniger daran, daß die Urteile „stimmen“ (siehe Mohnhaupt, Speitel), als daran, daß die meisten Inhaftierten wegen mehrerer Aktionen sitzen und wegen tödlicher Anschläge selbst dann routinemäßig ihr „lebenslänglich“ erhielten, obwohl eine direkte Tatbeteiligung nicht nachzuweisen war.
Üble Konsequenzen hat das Aussageverhalten der Heimkehrer schon jetzt für Peter-Jürgen Boock, der wohl zu Recht auf eine baldige Begnadigung durch den Bundespräsidenten hoffen konnte. Nun sieht er sich erst mal mit einem neuen Haftbefehl konfrontiert. Nach den Aussagen von Henning Beer wirft ihm die Bundesanwaltschaft zusätzlich Mord und Mordversuch im Zusammenhang mit dem Bankraub in Zürich vor. Auch für Sieglinde Hofmann, die aufgrund französischer Auflagen bei ihrer Auslieferung in die Bundesrepublik mit „nur“ 15 Jahren für die Beteiligung an der versuchten Ponto-Entführung davonkam, sieht es finster aus: Sie wurde von verschiedenen Gruppenmitgliedern vor allem im Zusammenhang mit dem Haig-Anschlag zusätzlich belastet. Unter den in der DDR Festgenommenen selbst sehen sich vor allem Sigrid Sternebeck, Susanne Albrecht und (mit Einschränkungen) Inge Viett über das zuvor bekannte Maß mit Vorwürfen konfrontiert.
Aus dem Gefängnis hat der „Gefangenen-Sprecher“ Helmut Pohl die früheren Genossen im August schließlich als von vornherein unsichere Kantonisten denunziert und den bevorstehenden Blick auf das RAF-Innenleben prophylaktisch als „Spektakel“ eingestuft. Die Vorbereitungen für Legendenbildung sind also im Gange. Doch insbesondere Werner Lotze hat seine Kooperationsbereitschaft mehrfach glaubwürdig als „Gewissensentscheidung“ und Wiedergutmachung bezeichnet. Verrat habe er sich — trotz der nun von der Bundesanwaltschaft für ihn und fünf andere Gefangene beantragten Kronzeugenregelung — nicht vorzuwerfen, weil es mit niemandem einen Deal gebe. Als Grundmotiv für seine Abkehr von der RAF nannte Lotze gegenüber seinem Anwalt stets den unüberbrückbaren Widerspruch zwischen Weg und Zielen der RAF. Von dem hehren Anspruch, eine bessere Welt zu bauen, sei nur noch die Bereitschaft übriggeblieben, „Menschen zu töten“.
Daß derlei Erkenntnisse die gegenwärtige Generation der RAF und ihre Anhänger beeindruckt, ist kaum anzunehmen. Die „Schwächung des organisatorischen Zusammenhalts“ der verschiedenen RAF-Ebenen, die der Generalbundesanwalt öffentlich „erwartet“, wird wegen der persönlichen Distanzierung der RAF-Heimkehrer aus der DDR von ihrer eigenen Geschichte jedenfalls nicht eintreten.
Für mehr Verunsicherung könnte eine andere Information aus den Reihen der früheren Aktivisten sorgen: Der Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Stammheimer Bunker, sagt Werner Lotze, sei Ende der siebziger Jahre sogar innerhalb der Kommandogruppe der RAF „eher“ als Selbstmord denn als Mord eingestuft worden — ganz im Gegensatz zur öffentlich von der RAF vehement vertretenen Mordthese.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen