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Die Polizei – dein Freund und Mörder

Bei polnischen Polizisten sitzt die Waffe locker. Immer häufiger werden Unschuldige Opfer schießwütiger Beamter. Das Vertrauen der Bevölkerung sinkt. Einige denken bereits an Selbstjustiz  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser

Warschau, Sonntag, 20 Uhr. Der 46jährige Polizist Jan G. ist auf dem Weg zum Dienst. Als er zur Straßenbahnhaltestelle „Budowlana“ kommt, sieht er ein paar dunkle Gestalten, die offenbar zwei junge Frauen und einen Mann überfallen. Jan G. zieht die Pistole, schießt in die Luft, die jungen Leute flüchten. Aus der nur 30 Schritte entfernten Bierhalle stürzen ein paar Männer auf die Straße. Jan G. zielt und schießt: einmal, zweimal, dreimal. Der 26jährige Robert Radomski stirbt sofort, Stanislaw Zurawski (52) und Andrzej Wasowicz (45) bleiben schwer verletzt liegen.

Jan G. rennt bis zur nächsten Kreuzung, hält einen Streifenwagen an, steigt ein und erklärt den Polizisten, was vorgefallen ist. Diese rufen eine Ambulanz und weitere Streifenwagen zur Verstärkung. Auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt Zurawski. Sein Kollege Wasowicz, dessen Darm durch den Schuß zerfetzt wurde, liegt noch immer auf der Intensivstation.

„Warum“, murmelt eine junge Frau und starrt in die flackernden Flämmchen Hunderter von Kerzen, „warum nur?“ Ein paar Jugendliche in Tarnanzügen und Springerstiefeln schleppen Kisten mit weiteren Kerzen und Gartenfackeln an. Sie zeigen den Kleineren, wie man die Kerzen bei dem starken Wind anzündet, dekorieren den Platz mit Blumen und Kränzen. „Der hätte ja auch mich erschießen können!“ ruft einer in die Runde. Doch niemand antwortet.

Die 50 Menschen, deren Blicke über das Kreuz, die Haltestelle, die tristen Wohnblocks und zurück schweifen, scheinen dasselbe zu denken. Jeder hätte es sein können. Jeder. „Er war noch so jung“, versucht es eine alte Frau. Doch auch ihr antwortet niemand. An der Haltestelle kleben bereits die Todesanzeigen. Quer über die ganze Wand hat jemand gesprüht: „Die Polizei mordet und lügt“. Und auf der Rückseite der Wand steht: „Bestraft den Schuldigen!“

Für den Pressesprecher der Warschauer Polizei, Witold Gieralt, ist klar, daß Jan G. aus Notwehr geschossen hat. In einem Radiointerview erklärt er, daß nach den bisherigen Erkenntnissen der Polizei die Männer aus der kleinen Kneipe den Polizisten in Zivil angreifen wollten und Jan G. allen Grund gehabt habe, sich bedroht zu fühlen. Außerdem habe die Polizei bei einem der Toten ein Billardqueue gefunden.

Zu den Aussagen der 17 Zeugen, die die Polizei inzwischen vernommen hat, will Gieralt keine Stellung nehmen: „Das könnte die Aussagen weiterer Zeugen beeinflussen.“ Daher ist weiterhin unklar, ob es den von Jan G. gesehenen Überfall an der Straßenbahnhaltestelle überhaupt gegeben hat. Der Polizist selbst ist nur einmal, an dem Tag nach den verhängnisvollen Schüssen, kurz verhört worden. Seitdem liegt er im Krankenhaus und ist laut Aussagen seines Anwaltes vernehmungsunfähig. Seine Polizeikollegen haben sich solidarisch mit Jan G. erklärt und gedroht, daß sie im Falle seiner Verhaftung ihre Dienstwaffe nicht mehr tragen wollten.

In der „Mini-Max-Bar“, die aus einer kleinen Trinkhalle mit Theke und Spielautomat und einer Art Kantine mit drei Tischchen und ein paar Stühlen besteht, empört sich einer der Stammgäste: „Sehen Sie hier einen Billardtisch?“ Ein anderer fragt: „Wer bewaffnet sich schon an einem Sonntag mit einem Baseballschläger, um mit Freunden zwei, drei Bierchen zu trinken?“

Die Tageszeitung Zycie Warszawy hatte die Version verbreitet, daß aus der kleinen Kneipe acht mit Baseballschlägern bewaffnete Männer gestürzt seien und den Polizisten angegriffen hätten. Zu den Stammgästen der Tatanka, wie die Mini-Max-Bar von fast allen genannt wird, zählten auch die beiden Erschossenen und der schwerverletzte Andrzej Wasowicz. „Wir rannten zusammen mit den anderen raus, als wir die Schüsse hörten. Da sahen wir einen Mann, der wie ein Wahnsinniger um sich schoß. Er hatte keine Uniform an. Wir wußten nicht, daß er Polizist war“, erzählt einer der Zeugen. Ein anderer mit der Statur eines Herkules meint: „Früher gab es hier so einen Stadtteilbullen. Mit dem konnte man reden wie mit einem Vater. Aber jetzt? Jetzt kommt so ein Arschloch an und knallt anständige Leute ab. Da hat man ja Angst, auf die Straße zu gehen. Vielleicht begegnet einem zufällig ein Polizist.“

Mit dieser Meinung steht der Mann aus dem Warschauer Stadtteil Brodno nicht alleine da. In ganz Polen sorgen immer häufiger Polizisten für Aufsehen, die spektakuläre Verbrechen begehen. Allein im Januar dieses Jahres hatten Polizisten mindestens drei Verbrrechen mit ihrer Dienstpistole begangen. Im Lomaza war der Polizeikommandant, der einen 19jährigen Mann verhörte, so betrunken, daß er irgendwann seine Pistole zog und schoß. Der junge Mann war sofort tot. Seine Untergebenen wollten einen Zeugen des Mordes mit Prügel dazu zwingen, die Version des Kommandanten von der „Notwehr“ zu bestätigen.

In Breslau hatten zwei Polizisten einer jungen Frau die Dienstpistole vor den Bauch gehalten und ihr das Auto gestohlen. In Warschau schossen Polizisten auf einen Autofahrer, der auf den Wink mit der Kelle nicht reagierte, sondern mit gleichbleibender Geschwindigkeit weiterfuhr. Die Polizisten, die sofort die Verfolgungsjagd aufnahmen, zielten auf die Reifen, trafen aber den Fahrer. Die Kugel durchbohrte Lunge, Leber und Darm.

Im Februar wurde die Polizei in Bialystok dazu verurteilt, eine Entschädigung in Höhe von 10.000 Zloty (knapp 7.000 Mark) für den Mord an einer jungen Frau zu zahlen. Die Kommandantur will in Berufung gehen, da der Polizist die 22jährige zwar mit seiner Dienstpistole, nicht aber „im Dienst“, sondern „privat“ erschossen habe. „Wenn das Urteil rechtskräftig wird“, so Unterinspektor Kasprzak von der Polizeistation in Lapy bei Bialystok, „rollt eine Lawine von Schadenersatzklagen auf uns zu.“ Schließlich könne die Polizei nicht für alle Schäden aufkommen, die betrunkene Polizisten in ihrer Freizeit anrichteten. In Kattowitz werden sich demnächst drei Polizisten vor Gericht verantworten müssen, die über zwei Jahre hinweg sieben minderjährige Mädchen mißbraucht hatten. Das jüngste Mädchen war elf Jahre alt.

Der Warschauer Todesschütze Jan G. aber war bislang nicht unangenehm aufgefallen. Im Gegenteil: Er trinkt nicht und raucht nicht. Er sei so eine Art „positiver Held“, meint ein Kollege. Ein Melancholiker, prinzipientreu und konsequent. Dazu ausgeglichen. Wenig gesellig, aber immer pünktlich. Die Bleistifte auf dem Schreibtisch ordentlich ausgerichtet.

Jan G. ist einer von 74 Polizisten, die täglich im Warschauer Stadtteil Wola auf Streife gehen, manchmal in Uniform, manchmal in Zivil. „Das sind Jungs von der Straße“, erklärt Witold Boniecki, der Polizeikommandant von Wola. „Jeder gute Polizist sollte auch im Terrain arbeiten. Dort werden die Probleme gelöst. Die wichtigsten Probleme.“

Die meisten Polizeianwärter melden sich direkt bei einer Kommandantur. Einige schickt das Arbeitsamt, andere wollen auf diese Art und Weise den Militärdienst umgehen. Sie füllen einen Fragebogen aus, werden untersucht, ob physisch und psychisch alles in Ordnung ist, und absolvieren anschließend einen achtmonatigen Grundkurs. Dann sind sie Polizisten mit dem Recht, eine Waffe zu tragen. Kaum ein Kandidat fällt durch.

Die Polizei in Polen hat massive Nachwuchsprobleme. Sie zahlt schlecht und kämpft – wie in vielen anderen Ländern auch – mit dem Negativimage des „Bullen“. Allerdings ist der Ton, den polnische Polizisten im Umgang mit den Bürgern anschlagen, tatsächlich so rauh, daß manche Verbrechen gar nicht mehr angezeigt werden. Das betrifft den Klau von Autoradios und kleinere Einbrüche, aber auch Vergewaltigungen und Kindesmißbrauch. Nur 18 Prozent der Polen bringen der Polizei „volles Vertrauen“ entgegen, wie eine im Januar durchgeführte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts PBS ergab. Die Folge: Immer mehr Bürger tun sich zusammen und engagieren einen eigenen Sicherheitsdienst. Inzwischen gibt es in Polen fast so viele „Privatgorillas“ wie „Staatsbullen“.

Zunehmend problematisch wird der Ruf der Polizei, der „größte Säuferdienst“ des Landes zu sein. Polizeipräsident Marek Papala kann sich diese Einschätzung nicht erklären. Das sei „ungerecht der Polizei gegenüber“. Über 100.000 Polizisten versähen täglich ihren Dienst, schützten das Leben und die Sicherheit der Bürger Polens. Witold Boniecki, der Kommandant von Warschau-Wola, bekennt allerdings, daß er jedes Jahr fünf bis sieben Polizisten wegen Trunkenheit im Dienst entlassen muß.

„Ich bin nicht dagegen, daß sie trinken oder gemeinsam trinken. Das schafft Bindungen, und diese Leute müssen Vertrauen zueinander haben. Aber was soll ich tun, wenn ein betrunkener Polizist einem Verkehrsteilnehmer den Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer abnimmt?“ Auch im Falle des Todesschützen Jan G. meint Boniecki: „Polizisten müssen solidarisch sein. Auch wenn jemandem so etwas zustößt wie dem Kollegen Jan G.“ Der Berufsverband der Polizisten hat schon erklärt, daß er für Jan G. den besten Anwalt Polens engagieren und bezahlen werde.

Am Sonntag nach der Tat marschieren rund 400 Einwohner von Brodno schweigend durch die Straßen Warschaus. „Gegen die Brutalität der Polizei!“ fordert das größte Transparent. „Strafe für den Schuldigen“ steht auf mehreren kleineren geschrieben und „Gerechtigkeit!“. Sollte der Todesschütze nicht endlich verhaftet werden, drohen einige Demonstranten, müsse man wohl zur Selbstjustiz greifen.

Noch immer sind fast alle Fragen offen: Warum hat Jan G. geschossen? War er vielleicht doch betrunken? Hat es den Überfall auf drei Jugendliche an der Straßenbahnhaltestelle überhaupt gegeben? Oder hat Jan G. die Situation falsch eingeschätzt und in Panik um sich geschossen? Beunruhigend ist die für die Polen wohl wichtigste Frage; Deckt die Polizei möglicherweise einen Täter, nur weil er aus ihren eigenen Reihen stammt?

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