■ Die Nettoverschuldung wird sich massiv erhöhen: Was nun, Koalition?
Die Geldvermögensbesitzer dürfen sich die Hände reiben: Der immer ungezügeltere Kreditheißhunger des Bundes verheißt einen warmen Strom leichtverdienter Zinseinnahmen. Die noch im März im Rahmen der „Solidarpakt“-Gespräche genannte Nettoverschuldung von 54 Milliarden Mark für das laufende Jahr soll sich neuesten Verkündungen zufolge auf etwa 70 Milliarden Mark erhöhen. Bundesbankchef Schlesinger wird angesichts solcher Zahlen seine gerade reduzierten Leitzinsen wieder anheben müssen. Die binnen knapper sechs Wochen zu verzeichnende Steigerung der Neuverschuldung von 30 Prozent läßt nicht nur an den Rechenkünsten, sondern auch an der politischen Intelligenz des Kassenwarts der Nation sowie seiner expertokratischen Helfershelfer Zweifel hegen.
Sicher – und da hat Waigel recht – hat die konjunkturelle Talfahrt einen Steuerausfall zur Folge, der schon aus Gründen der Vermeidung prozyklischen Verhaltens nicht durch weitere Einsparungen im Bundeshaushalt ausgeglichen werden sollte. Freilich haben sich der Finanzminister und die Bundesregierung viel zu lange selbst in die Tasche gelogen, indem sie in ihren Jahreswirtschaftsbericht einen Rückgang des Sozialprodukts um nur ein Prozent hineinschrieben ließen. Der weitaus größte Teil der nun zusätzlich zu machenden Schulden ist auf den Finanzbedarf der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von 18 Milliarden DM zurückzuführen. Und die nun notwendig werdenden höheren Bundeszuschüsse an die Nürnberger sind wiederum das Ergebnis steigender Arbeitsmarktausgaben, die sich ergeben, weil sich die Beschäftigungssituation im Osten wie im Westen des neuen Deutschlands sehr viel ungünstiger entwickelt hat als dies die Koalitionäre mit ihrer verqueren Realitätssicht unterstellt haben.
Wenn angesichts der Schuldenausweitung die Solidarpakt-Beschlüsse der Bund-Länder-Gespräche vom März hinfällig werden, mag dies politisch verwunden werden können, schließlich mußte deren ökonomische Sinnhaftigkeit sowieso ein Rätsel bleiben. Das politische und ökonomische Klima im neuen Deutschland aber dürfte frostiger werden, kann die bloße Politik der Staatsverschuldung doch immer weniger verschleiern, daß der Koalition längst alle Perspektiven verlorengegangen sind. Aktionismus und hektische Tagespolitik unter der Bedingung dramatisch zu nennender Realitätsverleugnung lassen befürchten, daß die binnengesellschaftlichen und binnenwirtschaftlichen Kontrollverluste in gleichsam klassischer machtpolitischer Manier durch außenpolitische Abenteuer kompensiert werden sollen. Kurt Hübner
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