: Die Nerds lieben es
BETON BESCHALLEN Stillgelegte Industrie und experimentelle Musik passen beim Elektronikfestival Norberg bestens zusammen
Willkommen in Norberg, im beschaulichen Västmanland nordwestlich von Stockholm. 5.000 Einwohner leben zwischen See und Kirchturmspitze. Gleich da vorne, mitten im Dorf, wohnt der Schriftsteller Lars Gustafsson. Aber das ist nur das eine Norberg. Das andere beginnt jenseits der Bundesstraße, wo monumentale Industriebauten in den Himmel ragen. Bis 1981 wurde in Norberg Eisen abgebaut. Als die Minen dann schließen mussten, nach 900 Jahren Abbau, konnte die Bevölkerung den industriellen Niedergang nicht fassen.
Es hat lange gedauert, länger als im deutschen Ruhrgebiet, erzählt Dag Censling vom Kulturamt, dass sich die Menschen von diesem Schock erholten. Erst in den vergangenen Jahren habe man begonnen, die Industrieruinen auch als kulturelle Stätten zu erschließen.
Seit 1999 trägt das Norberg Festival wesentlich zu diesem Perspektivenwechsel bei. Die brutale Architektur der Eisenmine, sie gilt Brian Williams als eine Kathedrale. Williams ist ein Dark-Ambient-Künstler aus Kalifornien, der seit dreißig Jahren unter dem Namen Lustmord auftritt. Er füllt die riesige Industriehalle mit rauschenden Spektralklängen, die unheilvoll pulsieren und sich in den Rissen der Betonwände einzunisten scheinen. Am späten Samstagabend lungern mehrere hundert Zuhörer in den verwinkelten Zwischengeschossen, um sich von diesem massiven Drone erfüllen zu lassen.
Experimentelle Electronica wie die von Lustmord, dem polnische Noisekomponisten Zbigniew Karkowski oder den britischen Industrial-Projekt :zoviet*france: sind der Grund, aus Kopenhagen, Oslo oder aus Berliln nach Norberg zu fahren. Das Festival hat sich als kleines, durchaus nerdiges Forum für noch die verwegensten Spielarten der Elektroakustik etabliert.
Die Konzerte in der Industrieruine Mimer gehörten zu den Höhepunkten des Wochenendes. Hier waren wunderbare Skurrilitäten zu sehen, wie der vermummte Mönch Raionbashi, der 30 Minuten lang mit ausgestreckten Armen auf einem Stuhl balancierte und dabei auf unergründliche Weise den Klang zu steuern schien. Das Gebäude selbst setzte den Musikern dabei gehörig zu, und kaum jemandem gelang es, sich über die Eigenfrequenzen der Architektur hinwegzusetzen. Man habe regelrechte Klangachsen gebaut und die Lautsprecher so ausgerichtet, dass die Bässe im Keller, die Höhen unterm Dach liegen, erklärt mir ein Tontechniker, damit sich das Klangbild überhaupt gliedern und durchhören lässt. Bezeichnenderweise gelang es zwei Laptop-Musikerinnen, die ganz ohne düstere Pose und großes Bohei daherkamen, am besten, sich gegen das störrische Gebäude zu behaupten. The Magic State konnte sich mit luziden, repetitiv schwebenden Sequenzerfiguren vom Ballast des Industriebetons befreien. Helena Gough hingegen arbeitete mit Klangfiguren, die dem Gestus, dem Sounddesign und dem Abstraktionsgrad nach stark an die elektronische Musik der fünfziger Jahre erinnerten und denen das industrielle Ambiente nichts anzuhaben können schien.
Natürlich bewegt man sich in Norberg nicht nur zwischen Industriedesign und verwegener Klangsynthese. Die elektronische Musik wird in ihrer ganzen Bandbreite abgebildet. Im alten Kraftwerk ist die gepflegtere Clubkultur zu Hause. Hier spielten am Freitagabend Dopplereffekt das schönste Konzert des Festivals. Mit ihrer stilisierten, ja manieristischen Playback-Performance übte sich das Duo in Demut vor der Technik. So wie der Mensch einst Götter erfand, um sich ihnen zu unterwerfen, erfinden wir heute die Technologie … Mit diesem ambivalenten Verhältnis zur elektronischen Musik und ihrem technoiden, ja sterilen Sounddesign verliehen Dopplereffekt dem Wochenende eine beinahe existenzielle Ebene, die am Ende auch etwas mit dem Perspektivenwechsel der postindustriellen Ära in Norberg zu tun hatte. BJÖRN GOTTSTEIN