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Archiv-Artikel

Die Multitude spricht

Kunstquartier Venedig (2): Zur 50. Kunstbiennale zeigt die ganze Stadt Flagge gegen Berlusconi. Manche Künstlerbeiträge widmen sich derweil längst verblassten Utopien von Kunst und Politik

von HARALD FRICKE

In Italien steht die Mitte links, zumindest in der Region Friaul-Venetien. Dort hat am Wochenende das rechte Lager um die Lega Nord gegen den Triester Kaffeefabrikanten Riccardo Illy verloren. Nun gilt der Unternehmer als aussichtsreicher Gegenkandidat zu Silvio Berlusconi bei den kommenden Wahlen.

Als Hauptsponsor der 50. Kunstbiennale ist Illys Firma in Venedig auch praktisch auf jedem Poster präsent. Überhaupt ist der Politaufschwung schwer en vogue: Überall in der Stadt hängen noch die „Pace“-Fahnen – keine Gasse ohne das Bekenntnis zum Frieden, das auch eine Kritik an der USA-freundlichen Haltung Berlusconis ist. Die Multitude hat gesprochen, hugh!

Bei so viel Aktivismus will die Kunst nicht zurückstehen. Neuseeland hat die La-Maddalena-Kirche für Michael Stevensons „trekka“-Projekt gemietet, das sich um einen legendären Allzweckjeep dreht. Der Trekka war eine Errungenschaft der späten 60er-Jahre, als das Land sozialistisch regiert wurde. Damals gab es kaum eigene Industrie in Neuseeland, die Bauteile für den Trekka mussten aus dem Ostblock importiert werden: der Motor von Skoda, das Chassis aus der Tschechoslowakei. Der Handel ging bis in die Siebziger, als das Nutzfahrzeug nicht länger mit den Fließbandprodukten der US-Autoindustrie mithalten konnte. Das war das Ende des seriengefertigten Trekka.

Für seinen Biennalebeitrag betreibt Stevenson eine kritische Rekonstruktion der Seventies-Ökonomie made in New Zealand. Wie haben sich seiner Zeit Wirtschaft und Kultur auf nationaler Ebene verzahnt? Bei seiner Recherche nutzt Stevenson Fundbilder aus alten Spielfilmen, die nun zur Fiktion eines drohenden Polizeistaates montiert sind. Nebenbei schwappen Images aus Wahlspots der neuseeländischen Arbeiterpartei ins Szenario, dazu Country-Rock als Down-Under-Beat der Subkultur – soweit die retrospektive Gratwanderung zwischen Pazifik-Utopie und Totalitarismus.

Eine ganz andere Utopie aus Kultur und Politik zeigt der peruanische Künstler Fernando Bryce im Sammelpavillon Lateinamerikas. Bryce ist in dem 1951 in Lima gegründeten „Museum der Reproduktionen“ auf Spurensuche gegangen. Dort gab und gibt es immer noch eine Abteilung zur Geschichte der westlichen Malerei – Kopien von Manet bis Picasso inklusive. Für Venedig hat Bryce 39 dieser Reproduktionen ausgeliehen und den dazugehörigen Schriftverkehr auf großformatigen Blättern nachgezeichnet. Dabei geht es ihm, mit Walter Benjamin, auch um die Frage nach dem Auraverlust von Kunstwerken, die paradoxerweise durch den Reproduktionsvorgang westliche Kultur in Peru erstmals breiten Schichten zugänglich gemacht haben.

Noch einen Schritt weiter geht das Ehepaar Emilia und Ilya Kabakov mit der Installation „Where is our place?“ in der Fondazione Querini Stampalia. Die in New York lebenden Russen, die 1992 auf der documenta mit einem zur sozialistischen Musterwohnung umgebauten Toilettenhäuschen bekannt wurden, haben das Gebäude in ein Gesamtkunstwerk verwandelt, in dem sich Menschen, Riesen und Zwerge begegnen können, so will es das Konzept der siebzigjährigen Kabakovs. Überdimensionale Hosenbeine stehen vor überdimensionalen Bildfragmenten, die aus der Museumsdecke hervorragen. Im Fußboden sind winzige Modelllandschaften eingelassen, und auf Augenhöhe wird der Betrachter mit Fotos aus den 80er-Jahren konfrontiert. Sowjetischer Alltag, Militäridyllen, Kultur und Technik in Zeiten der Perestroika – da war einiges los unter Gorbatschow. Begleitet wird der nostalgische Rundgang von kurzen Monologen nach Shakespeare-Art: „To the call of nature sing a triumphant response!“, heißt es neben einer Szene, auf der Yaks friedlich in der Sonne grasen. Danach tritt man bei 35 Grad im Schatten wieder hinaus auf die Straße und stolpert über die Preise für die Vaporetto-Tickets. Was für ein Utopieverlust! Fünf Euro für eine einfache Bootsfahrt auf dem Canale Grande, das ist der Eintritt für den Nahverkehr in Venedig! Kein Zweifel, die Stadt ist ein Museum, selbst in den alltäglichen Details.