■ Die Mobilität des Arbeitsmarktes als Chance: Die Schnellen und die Langsamen
Wer die Stellenannoncen in Zeitungen aus den 50er und 60er Jahren Jahren studiert und mit den heutigen Stellenmärkten vergleicht, dem dämmert, welch ungeheurer Wertewandel sich auf dem Arbeitsmarkt vollzogen hat. Export-Fachleute wurden damals gesucht, die „gute kameradschaftliche Zusammenarbeit zu schätzen wissen“, dem Handwerksgesellen sicherte man im Inserat „rechten Lohn und gute Behandlung“ zu. Akademiker priesen sich als „zuverlässig“ an. Zuverlässig! Wer eine solche Bewertung heute in seinem Arbeitszeugnis zu stehen hat, läßt es schamhaft verschwinden. Nichts ist vernichtender als ein vorrangiger Hinweis auf Ordnungsliebe; wer nur „zuverlässig“ arbeitet, fliegt als erster raus in Unternehmen, die nur durch ständige Produktivitätssteigerung überleben können.
Die gewachsene internationale Konkurrenz erzeugt einen Produktivitätsdruck, der in den 60er Jahren noch undenkbar war. Das hat Folgen für die Menschen in der Erwerbsgesellschaft. Von „wachsenden Ungleichheiten“ spricht der französische Soziologe Alain Touraine. Davor, daß das schwache „untere Drittel“ künftig endgültig abgehängt werden könnte, warnen SozialpolitikerInnen. Aber ist es tatsächlich so, daß auf einem dynamischen Arbeitsmarkt ein definierbares „sozial schwaches“ Bevölkerungssegment dauerhaft ausgrenzt und chancenlos bleibt? Die Bundesanstalt für Arbeit meldete im vergangenen Jahr eine Rekordzahl an Erwerbslosen und eine Höchstzahl an Vermittlungen. Die Frage stellt sich, wer von dieser Dynamik profitiert und wer nicht. Die Vermutung liegt nahe, daß es neue VerliererInnen und GewinnerInnen gibt.
Kleiner Exkurs in die sogenannte „dynamische Armutsforschung“: Es gilt nicht mehr als Katastrophe, wenn Menschen in Armut fallen. Das eigentliche Elend beginnt dann, wenn sie es zeitlebens oder gar über Generationen hinweg nicht mehr schaffen, aus diesem Zustand wieder herauszukommen. Die Forschung unterscheidet daher zwischen den „Schnellen“, die jede sich bietende Chance zum Ausstieg aus der Armut ergreifen, und den „Langsamen“, die das nicht können und somit zu chronischen Opfern werden. Auch auf einem sehr unsicheren Arbeitsmarkt gewinnt diese „subjektive Handlungskompetenz“ an Gewicht. Deshalb macht es keinen Sinn, darüber zu streiten, ob Arbeitslose nur Opfer sind, oder ob sie ihren Zustand selbst verschuldet haben. „Können“ und „Wollen“ sind in Wirklichkeit längst nicht mehr zu trennen. Wer die Chancen zum Ausstieg aus der Erwerbslosigkeit gar nicht mehr ergreifen kann, will aus Selbstschutz irgendwann auch nicht mehr. Und umgekehrt.
Die „subjektive Handlungskompetenz“ von heute unterscheidet sich von den Fähigkeiten, die früher den Arbeitsmarktstatus sicherten. Flexibilität, Durchsetzungsfähigkeit und nervliche Belastbarkeit sind Eigenschaften, die künftig möglicherweise mehr zählen werden als die „richtige“ Erstausbildung, fachliche Begabung, ja vielleicht sogar Intelligenz und Herkunft.
Nur wer innerlich beweglich ist, überlebt: Viele ArbeitnehmerInnen müssen heute schon ihre Qualifikation mehrmals im Berufsleben der Nachfrage anpassen. 40 Prozent der Beschäftigten wechseln aus ihrem ursprünglichen Ausbildungsberuf, Tendenz steigend. Nicht wenige müssen sogar damit rechnen, irgendwann mal im Leben ihren Job zu verlieren.
Nervenstärke und Flexibilität sind selbst auf den zukunftsweisenden Arbeitsplätzen gefragt. Wer in Industrie- und Dienstleistungsunternehmen mit projektbezogener Gruppenarbeit ackert, weiß, daß der nervliche Verschleiß nicht selten größer ist als der Verschleiß an Muskeln und Gelenken. Die Belastung durch die gestiegene Eigenverantwortung ist nur auszuhalten, wenn sich die Beschäftigten voll mit ihrer Tätigkeit identifizieren. Der größere Druck, so erzählt ein Software-Entwickler, käme gar nicht mehr von „oben“, sondern aus dem Team. Und am größten sei der Druck, unter den sich die Beschäftigten selbst stellen müssen. Wer in einem solchen Umfeld innere Distanz zu seiner Arbeit hat, fällt sofort unangenehm auf. Interessanterweise plädieren einige Betriebsräte heute wieder für elektronische Stechuhren, die nur die Anwesenheit als „Leistungsnachweis“ messen. Arbeitgeber würden dagegen lieber nur die Ergebnisse bewerten. Sie wissen warum.
Der hohe Produktivitätsdruck läßt die Flexiblen und Streßfesten gewinnen, die Bedächtigen und Sonderlinge verlieren – in allen Bereichen des Arbeitsmarktes, auf allen Hierarchiestufen. Bei der Rationalisierung und „Verschlankung“ der Betriebe fallen nicht nur die Jobs der Ungelernten weg, auch die Vorarbeiter und das mittlere Management fürchten um ihre Existenzberechtigung.
Durch den Kostendruck entstehen zudem neue „Beschäftigungsklassen“: Privilegiert sind die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, billiger und schlechter dran sind jene mit befristeten oder Werk- und Honorarverträgen, noch schwerer haben es die „schwarz“ Beschäftigten in Privathaushalten.
Das sind neue Ungleichheiten, die aber auch Chancen für jene eröffnen, die in starren Beschäftigungsstrukturen ausgeschlossen blieben: BerufsanfängerInnen, QuereinsteigerInnen, Frauen mit Kindern. Diese Jobsuchenden würden bei der Suche nach „festen“ Kräften mit unbefristeten Verträgen und Kündigungsschutz oftmals gar nicht erst zum Bewerbungsgespräch eingeladen, weil sie in den Augen der PersonalchefInnen ein Risiko darstellen. Bei den BerufsanfängerInnen und QuereinsteigerInnen fehlen die vorweisbaren Erfolge, den Müttern traut man den Job nicht zu. Über befristete Einstellungen, Werkverträge und Honorartätigkeiten aber eröffnet sich ihnen ein Einstieg.
Der hohe Produktivitätsdruck läßt PersonalchefInnen übrigens auch in Sachen Teilzeit umdenken: Teilzeitjobs sind nicht mehr so stigmatisiert wie früher, weil diese Beschäftigten für ihr Geld effektiver arbeiten. Und die Jobs in Privathaushalten haben ihr Gutes für jene ImmigrantInnen, die sonst überhaupt keine Chance hätten, in der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft Fuß zu fassen. Nicht wenigen gelingt von hier aus der Aufstieg in einen Ausbildungsberuf.
In einer dynamischen Erwerbsgesellschaft lassen sich die Gruppen der GewinnerInnen und VerliererInnen somit nicht allzu starr definieren. Das ist kein Grund, am sozialen Netz herumzuschnippeln. Im Gegenteil: Die hohe Dynamik auf dem Arbeitsmarkt macht eine Grundsicherung erforderlich, eine Absicherung für die Ausgemusterten und Langsamen. Denn in einer bewegten Erwerbsgesellschaft kann jedeR schon morgen dazugehören. Barbara Dribbusch
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