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Die Millenniumsmeile

Die Neujahrsansprache des Jahres, wenn nicht des Jahrhunderts, kam vom russischen Präsidenten Boris Jelzin, als er seinen überrraschenden Rücktritt ankündigte. Dagegen fielen seine KollegInnen natürlich ab. Soweit bekannt, waren vor allem Aufrufe zu Frieden, Rückbesinnung auf moralische Werte und mehr Eigenverantwortung zu hören. Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder rief die Bürger auf, mehr Verantwortung zu tragen. „Wir können nicht dasitzen und abwarten, was der Staat, was die Politik tun können.“ Als „dringendstes politisches Anliegen“ bezeichnete Schröder die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Bundespräsident Johannes Rau ließ sich gar zur Forderung einer „intensiven Wertediskussion“ hinreißen, „damit wir nicht jeden Wertewandel als Verfall fehlinterpretieren“. Bill Clintons Redenschreiber hatten gar Geschichtsbücher gewälzt: „Leif Eriksson segelte, Gutenberg druckte, Galileo wagte, Shakespeare dichtete, Elizabeth regierte, Mozart komponierte, Jefferson entwarf, Bolivar befreite, Lincoln bewahrte, Einstein träumte, Atatürk baute, Roosevelt führte, Gandhi predigte, Mutter Teresa heilte, Mandela triumphierte“, fasste der US-Präsident 1.000 Jahre Geschichte zusammen.

Wenn der gefürchtete Jahrtausendcrash die Zivilisation wirklich lahmgelegt hätte, wären natürlich andere Reden gehalten worden. Doch bisher blieben Katastrophen-Meldungen aus. Hier und da Fehlüberweisungen bei Banken (siehe Wahrheit), anderswo stimmten Datumsanzeigen nicht oder der Wetterdienst für Piloten fiel kurzzeitig aus. Die Weltbörsen hielten in der Mehrzahl am Samstag einen Manövertag mit Trockenübungen und behaupteten, es seien rund um den Globus keine Jahr-2000-Fehler aufgetreten. In Omaha, USA, öffnete die Elektronik in einem Regierungsgebäude alle Türen per Elektromotor. Erst als der Wachschutz das Computerdatum auf 1972 zurückstellte, gingen die Türen wieder zu. Ein kleines Problem mit seiner World-Wide-Web-Seite hatte ausgerechnet die deutsche Initiative 2000, ein Zusammenschluss der Software-Industrie: Zwischen all den Informationen von IBM, Siemens, SAP und Co prangte gestern Mittag der Countdown „In genau 11 Monate 29 Tage 10 Stunden [...] sind wir ein Jahrtausend weiter – sind ihre Systeme vorbereitet??“ Die Software hatte wohl den Datumswechsel falsch interpretiert und sprang wieder auf den 1. Januar 1999 zurück. Tja.

Am schlimmsten trifft es aber diejenigen, die sich mit Wurst- und Gemüse-Konserven samt Stromaggregat aufs Land zurükgezogen hatten, um dort den Zusammenbruch zu überleben. Sie bleiben nun auf ihren Notrationen sitzen. Ein US-Großhändler hatte schon Anfrgen, ob der die Dauerware wieder zurücknimmt. Seine knappe Auskunft: „Geschäfte sind zum Verkaufen da, nicht zum Verleihen.“

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