: Die Langsamkeit des Machtwechsels
In der Schweiz kehrt das Wahlvolk den Parteien den Rücken. Auch die Sehnsucht nach Stabilität kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die vier Regierungsparteien zerstritten sind ■ Aus Bern Martin Schläpfer
Die originellste Werbeaktion steuerte während des schweizerischen Wahlkampfs bezeichnenderweise die Agentur einer deutschen Biermarke bei: „Wählt Claus Thaler!“ Die 2.840 Kandidatinnen und Kandidaten für den 200köpfigen Nationalrat lieferten sich eine beispiellose Werbeschlacht, als wäre eine ganze Nation auf dem Egotrip. Kein Wunder, ging es doch um Köpfe statt um Parteien und Programme. Das Volk hat die Parteien stets stiefmütterlich behandelt, und folgerichtig werden sie in der Bundesverfassung mit keinem Wort erwähnt.
Dennoch nahm dieser Wahlkampf überraschende Wendungen. Im vergangenen Sommer deutete noch alles daraufhin, daß die herausragendste Figur der Schweizer Politik die Szenerie total beherrschen würde: Der nationalistische Unternehmer und Finanzier Christoph Blocher von der Schweizer Volkspartei (SVP). Der wortgewaltige Volkstribun und glühende Franz-Josef-Strauß-Bewunderer zwang dem Land eine permanente Europa-Debatte auf, die er bereits früh mit einer demagogischen Kampagne gegen die angeblich „heimatmüden“ Pro-Europäer eingeleitet hatte.
Doch dann stahl ihm der schlaue Finanzminister Otto Stich die Show. Der 68jährige kündigte mitten im Wahlkampf seinen Rücktritt zum 31. Oktober an. Damit katapultierte er seine Sozialdemokratische Partei (SP) ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Das Parlament wählte am 27. September den Zürcher Justizdirektor Moritz Leuenberger in die Regierung. Zwar versuchten freisinnige Putschisten aus Zürich, den Sozialdemokraten den zweiten Sitz im siebenköpfigen Bundesrat streitig zu machen, doch der Plan geriet knapp vier Wochen vor den Wahlen zum Flop. Die Sozialdemokraten präsentierten sich als Partei der Gewinner, während sich über der arroganten Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) Häme und Spott ergossen. Mit Leuenbergers Wahl ist kurz vor dem Urnengang auch die „Zauberformel“ gestärkt worden. Seit 36 Jahren regieren in der Schweiz die gleichen vier Parteien zusammen. Wenn auch SP und Blochers EU-Gegner morgen Sitze gewinnen werden, steht fest: Das Machtkartell bleibt gewahrt. Karl Poppers These, wonach sich die Demokratie dadurch auszeichne, daß sie den gewaltlosen Machtwechsel gewährleiste, gilt für die Schweiz nicht. Die Sehnsucht nach Stabilität überstrahlt alles. Zudem geht ohnehin alle Macht vom Volke aus. Viermal pro Jahr trifft es die relevanten Entscheidungen an der Urne – egal, wer in Bern regiert. Entsprechend lau ist die Begeisterung. 1991 sank die Wahlbeteiligung auf ein Rekordtief von 46 Prozent.
Doch die Fassade der vielgepriesenen Stabilitätstrutzburg zeigt Risse. Die Wählerschaft der drei großen Volksparteien FDP, CVP und SP erodierte in den achtziger Jahren und, mit Ausnahme der SPS, auch 1991. Grund: Das Tuch der Gemeinsamkeiten ist zerschnitten, die Regierung zerstritten. In den letzten Jahren hat sich der Bundesrat mit einem nicht finanzierbaren Alpenbahn-Transversalen-Projekt blamiert und diverse andere Versprechen gebrochen.
Ganz im Gegensatz zur deutschen Schwesterpartei ist die Zukunft der personell und programmatisch ausgezehrten Christdemokraten (CVP) zappenduster. Die unter Führung Christoph Blochers nach rechts abgedriftete Volskpartei könnte jetzt erstmals in die katholischen Hochburgen der CVP einfallen. Politologen prophezeien, daß der vielgestaltigen Parteienlandschaft in den nächsten Jahren eine Flurbereinigung bevorsteht. Sie könnte sich in drei Blöcke, nationalistisch-konservative Rechte, gemäßigt pro-europäische Mitte und EU-freundliche Linke aufteilen. Veränderungen werden kommen, nur dauerten sie in der Schweiz schon immer etwas länger: „Charakteristisch für unser Land ist die enorme Langsamkeit im Ablauf des Machtwechsels“, sagt der Historiker Sigmung Widmer, ehemaliger Stadtpräsident von Zürich.
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