: Die Kunst zu pflegen
Anthroposophische Pflegeheime wollen alten Menschen unnötige Ängste nehmen. Sie sehen im Alter eine Phase des Bilanzierens. Die Pfleger sollen den Menschen dabei helfen. Dafür werden sie schon in der Ausbildung stark gemacht
VON MAREIKE FUCHS
Das Alter löst bei den meisten Menschen Angst aus. Sie fürchten den Verlust des Arbeitsplatzes und ihrer geistigen wie körperlichen Gesundheit. Besonders wer pflegebedürftig wird, hat leicht das Gefühl, Angehörigen und der Gesellschaft zur Last zu fallen und keinen Wert mehr zu besitzen. Obwohl die Menschen in unserer Gesellschaft immer älter werden, fehlt Klarheit darüber, welchen Sinn das Alter erfüllt. Anders in der Anthroposophie. Hier hat das Alter einen besonderen Stellenwert: Das vergangene Leben soll bilanziert werden. Dies spiegelt sich auch in der Pflege älterer Menschen wider. Dabei geht es um die Kunst, sie in dieser Phase zu begleiten.
Mit diesem Hintergrund bieten anthroposophische Pflegeheime und Altenpflegeseminare eine Alternative zu herkömmlichen Einrichtungen. „Mein Motiv, weswegen ich in der Altenpflegeausbildung tätig bin, ist der Wunsch, die Freude und Schönheit dieses Berufs zu vermitteln. Denn es ist erfreulich, in diesem Beruf zu arbeiten“, erklärt Annegret Camps, Schulleiterin des anthroposophischen Altenpflegeseminars in Frankfurt am Main. Sie selbst hat Krankenpflege in einer herkömmlichen Einrichtung gelernt und arbeitet nun als Ausbilderin in der anthroposophischen Pflege. „Ich persönlich könnte das nicht ohne das anthroposophische Menschenbild tun; ich hätte längst das Handtuch geworfen“, sagt sie. Dabei gelten für anthroposophische Einrichtungen dieselben gesetzlichen Bestimmungen wie für herkömmliche: Die Dauer der Ausbildung beträgt drei Jahre. Der Auszubildende besucht zunächst eine Schule und geht danach in einen Betrieb. Die Ausbildung wird vom Arbeitsamt anerkannt. Umschulungen sind ohne weiteres möglich, und Absolventen können problemlos an nicht anthroposophischen Einrichtungen arbeiten. Das erlernte Fachwissen ist zwar gleich, doch die feinen Unterschiede in der Vermittlung zeigen Wirkung. Im anthroposophischen Pflegeseminar wird viel Wert auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit gelegt. Annahme ist: Nur eine starke Persönlichkeit, die weiß, warum sie diesen Beruf ausübt, ist in der Lage, die zunehmenden Belastungen lange Zeit zu bewältigen und zudem noch Freude am Beruf zu empfinden. Mittel dafür ist die stark künstlerisch orientierte Ausbildung. Sie dient nicht dazu, später mit alten Menschen zu singen oder zu malen, sondern die eigene Persönlichkeit zu stärken. Zudem werden die Schüler anthroposophischer Pflegeseminare durch Supervisionen immer wieder dazu angeregt, sich Gedanken über den Sinn ihrer Arbeit zu machen. Die Schüler sollen schnell lernen, viel Verantwortung zu übernehmen. Die Hierarchien werden flach gehalten und Mitarbeiter, Bewohner und Angehörige in Entscheidungsprozesse integriert.
Die anthroposophische Pflegeausbildung will ein ganzheitliches Menschenbild fördern, in dem Körper, Geist und Seele zusammenspielen. Damit der Mensch glücklich ist, müsse allen drei Komponenten Anregung geboten werden, so die anthroposophische Idee. Die Pflegeschüler sollen während ihrer Ausbildung sensibilisiert werden, die Bedürfnisse der Bewohner zu erkennen. „Wir hatten beispielsweise mal eine Frau“, berichtet Anngret Camps, „die unheimlich unruhig war und geschrien hat, sodass wir schon überlegt haben, ob wir ihr Medikamente geben sollen. Stattdessen sind die Pfleger darauf gekommen, ihr einen Himmel über das Bett zu hängen. Sie wurde tatsächlich ruhiger, auch ohne Medikamente.“
Im Qualitätsvergleich schneidet die anthroposophische Herangehensweise gut ab. Von 26 Heimen in Frankfurt, die die BHF-Bank-Stiftung im Jahr 2001 bewertete, erlangte das anthroposophische Haus „Aja Textor-Goethe“ den ersten Platz. Vergleiche mit anderen Häusern zeigen eine ähnliche Bilanz für die Mitarbeiter. Die Fluktuation ist geringer, die Mitarbeiter leiden durch das hohe Maß an Mitbestimmung und Betreuung seltener am Burn-Out- Syndrom und bleiben länger im Beruf.
Aber auch anthroposophische Pflegeheime haben mit den gleichen Problemen wie herkömmliche Einrichtungen zu kämpfen. Der wachsende Bürokratismus beschäftigt immer mehr Mitarbeiter mit formalen Aufgaben außerhalb der Pflege. Die Zeit wird knapper, das Geld weniger. Dennoch kann die Konzentration auf die Persönlichkeit und Stärkung des einzelnen Menschen, auch der pflegenden Person, viele Schwierigkeiten abfedern helfen. „Ich denke, irgendwie liegt die Kraft durchzuhalten darin, dass die einzelnen Menschen stark sind und dass wir trotz aller Begrenzungen auch die Möglichkeiten sehen. Ich wünsche mir, dass wir uns nicht erdrücken lassen und unsere Fantasie nicht verlieren“, sagt Annegret Camps vom Frankfurter Altenpflegeseminar.
Informationen zum Fachseminar für Altenpflege: www.altenpflege-ausbildung.de/index.php; Bund für gemeinnützige Altenhilfe aus Anthroposophie und Christengemeinschaft: www.nikodemuswerk.de