■ Die Krise der Europäischen Union und der Berliner Gipfel: Die Chance der Renationalisierung
Die Geschichte der Europäischen Union war bisher die Geschichte des Kampfes zwischen drei Machtzentren. Die zentrale Bürokratie, vertreten durch die EU-Kommission, wollte mehr Macht für die zentrale Bürokratie. Die nationalen Regierungen, vertreten durch den Ministerrat, wollten mehr Macht für die nationalen Regierungen. Das EU-Parlament, das sich als Vertreter der europäischen Wahlvölker sah, wollte mehr Macht für das Europaparlament. Das war eine äußerst explosive und fortschrittsfeindliche Konstellation. Streit innerhalb dieses Dreiecks ergab meistens noch weniger als ein Nullsummenspiel – mehr Macht an einer Stelle brachte mehr Ärger an den zwei anderen mit sich. So wuchs die Summe der Enttäuschungen schneller als die Summe des Erreichten.
Aus diesem Grund ist die Krise, die mit dem erzwungenen Rücktritt der EU-Kommission entstanden ist, nicht einfach zu lösen. Zu begrüßen ist zwar, daß die Krise in ihrer ganzen Dimension als institutionelle Krise begriffen worden ist, die institutionelle Veränderungen erfordert, und nicht einfach als vorübergehende Vertrauenskrise, wie es einige der unbekümmerteren EU-Kommissare zunächst dachten. Die meisten Reformvorschläge laufen jedoch nicht auf eine Entschärfung der EU-Konfliktmechanismen hinaus, sondern auf ihre Zuspitzung. So soll die Kommission mit einem starken Chef mehr Gewicht erhalten und zugleich das Parlament mehr Rechte. Und es wäre erstaunlich, wenn die EU-Regierungschefs in Berlin nicht auch noch den Wunsch nach einer Stärkung der Rolle der EU-Regierungen vorbrächten. Dann aber wäre das Chaos komplett.
Dabei liegt im Rücktritt der EU-Kommission eine Chance. Ein Bestandteil des Dreiecks hat sich selbst versenkt. Es bleiben noch zwei – die europäischen Regierungen und der hypothetische Souverän, also das dem Anspruch nach im Europaparlament vertretene Wählervolk. Das ist eine willkommene Klärung der Fronten. Die EU-Kommission ist vorübergehend zur leeren Hülse geworden, in die nun eine der beiden verbliebenen Parteien neues Leben einhauchen muß – entweder die gewählten nationalen Regierungen oder die gewählten europäischen Parlamentarier. Wer von den beiden die Kontrolle über die Kommission gewinnt, wird auf lange Sicht hinaus auf europäischer Ebene die Oberhand behalten.
Die EU steht vor einer Wegscheide: entweder Renationalisierung oder europäische Verschmelzung. Entweder die massive Rückverlagerung von Entscheidungsgewalt auf die nationale Ebene oder die Errichtung von Demokratie auf EU-Ebene mit einer europäischen Verfassung und dem Europaparlament als Gesetzgeber.
Die Option der Renationalisierung startet mit einem Vorteil. Die Nationalstaaten gibt es, den gesamteuropäischen Souverän gibt es nicht. Der Realität und nicht dem Anspruch nach betrachtet ist die Rückverlagerung von Kompetenzen aus Brüssel zurück nach Bonn, Paris, London und den anderen Hauptstädten nicht nur ein Akt der Renationalisierung, sondern auch ein Akt der Demokratisierung, denn es gibt mehr demokratische Kontrollmöglichkeiten auf nationaler als auf supranationaler Ebene. Es wäre daher falsch, die Renationalisierung als nationalistisch zu verteufeln. Sie eröffnet vielmehr die Chance, die in ganz Europa zu beobachtende schleichende Schwächung der bestehenden parlamentarischen Institutionen aufzuhalten. Die Verlagerung von Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene war immer auch ein Mittel, der Bürgerebene Eingriffs- und Kritikmöglichkeiten zu entziehen.
Europäischer Fortschritt ist nicht gleichlautend mit immer engerer Integration, sondern bedeutet, zentrale politische Fragen der europäischen Entwicklung wieder der öffentlichen Diskussion zugänglich zu machen. Vielleicht kann erst auf diesem Umweg erreicht werden, was die Vertreter einer europäischen Verfassung bereits fordern: die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit, aus der dann eine europäische Demokratie wachsen kann. Dominic Johnson
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