Die Krise bei Hertha BSC: Abwärts geht es schnell
Von alleine geht es nirgendwo aufwärts – abwärts dagegen geht es überall schnell: Die Krise des Fußballvereins Hertha BSC Berlin als Lehrstück erzählt.
Ich bin ein Fußballfan mit kurzem Gedächtnis. In den zehn Jahren, in denen ich nun von Kreuzberg aus den Geschicken der Hertha folge (bevor ich nach Berlin umzog, lebte ich in Wien), war sie für mich immer fraglos ein Erstligaklub. Zwar steckte sie 2004 lange im Abstiegskampf fest, aber irgendwie nahm ich das als ein Missverständnis wahr. Dass Hertha BSC von 1991 bis 1997, also fast ein Drittel der Jahre nach der Wiedervereinigung, in der zweiten Liga gespielt hat, weiß ich zwar theoretisch. Praktisch aber liegt dieses Wissen jenseits meines kurzen, persönliches Gedächtnisses als Hertha-Fan.
Im vergangenen halben Jahr ist alles anders geworden. Die Mannschaft liegt nahezu aussichtslos am Ende der Tabelle. Fast alles sieht danach aus, dass die Hauptstadt in der kommenden Saison keinen Verein in der höchsten Spielklasse der Profifußballer haben wird – eine Anomalie, zu der es keinen mir bekannten europäischen Vergleich gibt und über die es sich nachzudenken lohnt. Denn der tiefe Sturz der Hertha, die im Vorjahr noch davon träumte, die Meisterschaft zu holen, ist durch ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände verursacht und hat doch tieferliegende Ursachen. Im Grunde erlebt der Fußball da gerade ein Lehrstück, und wenn man das richtige Vergrößerungsglas auf die Sache hält, dann könnte man meinen, dass dieses Lehrstück weit über sich hinausweist - hinein in eine Welt, in der Wachtumsbeschleunigungs- und Schuldenbremsgesetze beschlossen werden und ständig darauf gewettet wird, dass aufgrund außergewöhnlich günstiger Umstände alles so bleiben kann, wie es ist. Bei Hertha ist eine Blase geplatzt, die doch schon gesundgeschrumpft schien - ist das nun einfach grausames Schicksal?
Personell kommt das Lehrstück Hertha BSC mit zwei Figuren aus (dazu zwei Statisten sowie zwei Chöre: die Mannschaft und der Fanblock). Die eine Figur ist der Manager, die andere der Trainer. Beide sind nicht mehr da. Dieter Hoeneß hatte im Sommer 2007, nach mehr als einem Jahrzehnt in der Verantwortung für Hertha BSC, sein Geschick an den damals nur Kennern geläufigen Schweizer Trainer Lucien Favre geknüpft. Davor hatte Hoeneß als Wachstumsbeschleuniger die Strukturen geschaffen, in Berlin längerfristig erfolgreich Erstligafußball zu spielen. Die Schaffung dieser Strukturen (Geschäftsstelle, Trainingsanlage, Spielerkader für gehobene Ansprüche) kostete aber insgesamt mehr Geld, als in diesen Jahren erwirtschaftet wurde. Irgendwann hatte die Hertha nicht mehr nur einfach Schulden. Sie war durch die angehäuften Defizite in ihren Bewegungsmöglichkeiten empfindlich eingeschränkt.
Dieser Artikel ist aus der aktuellen vom 9./10.1.2010 - jeden Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk erhältlich.
regelmäßiger taz-Autor, schreibt unter dem Pseudonym Marxelinho seit vielen Jahren ein Hertha-Blog
In dieser Situation präsentierte Dieter Hoeneß den Trainer Lucien Favre - einen intelligenten französischen Schweizer, der ein drolliges Deutsch sprach und nicht zufällig mit dem Begriff der Polyvalenz reüssierte. Übersetzt bedeutet das ja nichts anderes, als dass in schwierigen Zeiten jeder alles können sollte. Mit Favre verordnete der nunmehrige Schuldenbremser Hoeneß der Hertha ein Experiment, das eine Weile ganz gut ging: Mangel an Ressourcen sollte durch Vorsprung an Intelligenz wettgemacht werden. Im Grunde gab es in Berlin auch auf dem Rasen eine "grüne Ökonomie", eine Mannschaft, die als "smartes Netz" die Gegenspieler und den Ball einfangen und Letzteren dann ins Tor des gegnerischen Teams bringen sollte, auf klugen Laufwegen und dezentral, also ohne großen Spielmacher.
Die Hertha war eine Weile ein Hype, dann gewann sie auch noch Spiele (wenn auch selten attraktiv), und im letzten Sommer schrammte sie hart an den Plätzen vorbei, die zur Teilnahme an der Champions League berechtigt hätten. Dass sie an den letzten beiden Spieltagen recht brutal einbrach, erschien mir damals als List der Vernunft, denn so gut, um mit Arsenal oder Barcelona mitspielen zu können, war sie nun auch wieder nicht. Es war eine schwere Kränkung, aber war es nicht auch eine Rückstufung auf die ursprüngliche Aufgabenstellung: die geduldige Entwicklung konkurrenzfähiger, solider Strukturen?
Das ist natürlich, was alle Vereine wollen, aber die Zeit dafür muss man sich erst einmal erkaufen, wenn man sie davor verschwendet hat. Das bringt uns zum Auftritt des ersten Statisten in diesem Lehrstück. Werner Gegenbauer, Präsident des Vereins Hertha BSC, machte vor allem mit dem Wort "Transferüberschuss" von sich reden. Gut kaufmännisch heißt das, dass Hertha gute Spieler abgeben musste, um billige Spieler holen zu können. Dieter Hoeneß wurde der vorzeitige Rücktritt nahegelegt. Als die neue Saison der Hertha von Wochenende zu Wochenende katastrophaler wurde, tat sein Nachfolger Preetz all das, was in so einer Situation zu Gebote stand: Er wechselte den Trainer aus, er holte neue Spieler, er beschwor mit fahlen Augen die Rückkehr eines Glücks, das auf allen Ebenen verloren gegangen war.
Hertha BSC hat im abgelaufenen Jahr erlebt, dass sie in Pech und Unvermögen ganz allein ist auf der Welt. Nun, da der Hype vorüber ist, die Schulden der Ära Hoeneß aber immer noch da sind, muss sie sehen, wo sie bleibt. Sie kann in der momentanen Lage nicht mehr, wie noch vor kurzer Zeit, auf ein "Signing Fee" hoffen, mit dem ein Vermarkter sich die Verwertungsrechte der mittleren kommenden Dekade gesichert hat, und sie kann auch nicht darauf hoffen, dass - wie es bei Schalke 04 geschehen ist - ein stadteigener Betrieb mit einer kräftigen Finanzspritze auftaucht. Sie hat ja auch gar kein Vermögen, an dem sie Beteiligungen veräußern könnte, und außerdem, so tragisch ist die Ironie mittlerweile, ist Geld im Moment gar nicht das primäre Problem. Es muss endlich einmal wieder gewonnen werden. Hertha BSC hat sich in eine Lage gebracht, in der nur noch das zählt, was einer alten Fußballerweisheit zufolge ohnehin immer nur zählt: was zählt, ist aufm Platz.
Unter normalen Umständen ist das eine reine Augenauswischerei, denn das Spiel über neunzig Minuten mit einem runden Ball war immer schon aufgehoben in dem nächstgrößeren Spiel, in dem Scouts auf dem ganzen Erdball hinter Spielern herjagen, Vereine sich zu globalen Brands stilisieren und Investoren einem Traditionsverein ihre Schulden aufladen. Und auch dieses Spiel ist noch einmal aufgehoben in dem nächstgrößeren Spiel, in dem Ministerpräsidenten und Weltkonzerne sich Vereine als Renommierabteilungen halten können.
Von all dem kann bei Hertha BSC keine Rede sein. Das hat nun nicht mehr viel mit den beiden Spielen zu tun, die Ende der letzten Saison vergeigt wurden, oder mit den vielen deprimierenden Auftritten seither. Sondern es hat mit den langen Jahren nach 1997 zu tun, in denen durch ständige Politikwechsel nie so richtig die Bedingungen für gedeihliche Arbeit gelegt werden konnten. Die Hertha war sich in Anspruch und Ausgaben immer eine Spur zu weit voraus, als dass sie ein vernünftiges Bremsmanöver hinbekommen hätte können.
Verlorene Nullerjahre
Die "verlorene Dekade", von der die Medien mit Blick auf die "Nullerjahre" sprechen, gab es auch bei der Hertha. Sie hat in diesen Jahren Champions League und Europacup gespielt, hat mal Bayern geschlagen und dann gegen Cottbus verloren, sie war immer mit dabei, hat aber nie Boden unter die Füße bekommen. Ein tragfähiges Selbstverständnis hat sie auch nicht entwickelt. Sie war, fast niemand hat es bemerkt, eines der Gesichter dieses Jahrzehnts, weil auch Hertha es letztlich verloren hat.
Die Bestellungen von Lucien Favre und Michael Preetz waren Versuche, auf ein vertretbares Tempo umzustellen, und ausgerechnet in dieser Situation reichten dann ein paar handwerkliche Fehler, ein paar missratene Transfers, ein paar Verletzungen, ein paar lustlose Spieler, um eine Kettenreaktion und eine Abwärtsbewegung fatalen Ausmaßes in Lauf zu setzen.
Als ich vor vielen Jahren noch in Österreich begann, in der "Sportschau" Namen wie Michael Preetz oder Sixten Veit aufzuschnappen, die damals Leistungsträger und Identifikationsfiguren der Hertha waren, da dachte ich unwillkürlich, mit einem Club in einer Stadt wie Berlin müsste es irgendwann irgendwie naturgemäß aufwärts gehen. Inzwischen weiß ich es besser, aber so genau, wie diese Saison die Unwägbarkeiten des Fußballs vor Augen geführt hat, möchte ein Fan es eigentlich gar nicht wissen. Außerdem enden Lehrstücke oft unentschieden. Die Hertha aber braucht nächste Woche, wenn die Rückrunde losgeht, dringend einen Sieg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts