Die Kinder von Sokolniki: Blutspender für Wehrmachtssoldaten
Gerade mal 56 von 2.000 Bewohnern eines Kinderheimes in der Ukraine haben die Zeit der deutschen Besatzung im 2. Weltkrieg überlebt. Die Wehrmacht hat sie als Blutspender missbraucht.
BERLIN taz Bei Wladimir, genannt Wowa, ging es schnell. Nach zwei, drei Tagen, war der einjährige Säugling gestorben. Seine Geschwister, die mit ihm im Bett gelegen hatten, um sich zumindest gegenseitig zu wärmen, fanden ihn tot neben sich. Sie wickelten ihn in Lumpen und legten ihn hinaus in die Kälte. Sie selbst wurden sieben Tage später, an einem eisigen Dezembertag, von einer Nachbarin entdeckt. Schon halb verhungert waren sie, aber niemand hatte etwas zu essen übrig. Deshalb ließ die Nachbarin sie von den deutschen Besatzern abholen. Die brachten den neunjährigen Nikolaj Kalaschnikow und seine jüngere Schwester Vera in das Kinderheim Sokolniki am Rande des ukrainischen Charkow. Doch hier sollte ihre eigentliche Tortur erst beginnen.
Nikolaj Kalaschnikow sitzt an einem schönen Sommerabend auf einer Holzbank in einem Berliner Garten. Der 76-jährige ist ein milder Mann mit weißen Haaren, einer Hornbrille und vielen goldenen Zähnen, die ab und zu in seinem Mund aufblitzen. Als er über Wowas kurzes Leben spricht, wird seine Stimme kurz brüchig, sonst bleibt der frühere Schlosser gefasst, nüchtern fast. Dabei berichtet er über sein eigenes Schicksal während der deutschen Besetzung der Ukraine im Zweiten Weltkrieg Unglaubliches: Ihm und anderen Insassen des Kinderheims Sokolniki nahmen die Deutschen demnach Blut ab, das verwundeten Wehrmachtssoldaten transfundiert worden sein soll. Viele Kinder des Kinderheims starben bei dieser erzwungenen Blutspende, so die übereinstimmenden Berichte. Ukrainische Kinder als lebendige Blutbank ihrer deutschen Besatzer.
Das Maximilian-Kolbe-Werk, benannt nach einem christlichen Märtyrer in Auschwitz, hat erstmals im vergangenen Jahr von den "Kindern von Sokolniki" gehört. Das katholische Hilfswerk lädt seit 1978 KZ- und Ghettoüberlebende aus Mittel- und Osteuropa nach Deutschland ein. Im Rahmen des Progamms sind auch Kalaschnikow, fünf weitere "Kinder von Sokolniki" und sechs andere Holocaust-Überlebende derzeit zu einem "Erholungs- und Begegnungsaufenthalt" in die Bundeshauptstadt geladen. Auf ihrem offiziellen Programm stehen unter anderem ein Empfang im Roten Rathaus, ein Treffen mit der katholischen Hochschulgemeinde und eine Zusammenkunft mit dem Berliner Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky. Alle alten Ukrainerinnen und Ukrainer haben schreckliche, beschämende Geschichten zu erzählen. Doch am meisten Aufmerksamkeit erregen die Berichte vom Leid der "Kinder von Sokolniki".
Heute lebt von den malträtierten Kindern des Heims in Charkow nur noch ein gutes Dutzend. Auch in zwei anderen Städten der Ukraine gibt es ähnliche Berichte über Blutentnahmen an Kindern. Nach Erzählungen weißrussischer Zeitzeugen gab es vergleichbare Gräueltaten in ihrem Land ebenso. Fast nur mündliche Belege für diese Taten finden sich, aber die wesentlichen Fakten stimmen bei allen überlieferten Schreckensgeschichten überein.
Und die von Nikolaj Kalaschnikow beginnt wenige Jahre nach dem 17. Mai 1932. An diesem Tag wird Kalaschnikow als ältester Sohn eines Chauffeurs und einer Arbeiterin in Charkow, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, geboren. Als der Krieg gegen Deutschland ausbricht, muss sein Vater an die Front, seine Mutter bleibt mit ihren fünf Kindern zuhause. Die Millionenstadt Charkow wird von 1941 an von den Deutschen besetzt, die Bevölkerung wird ausgehungert. An einem Dezembermorgen verlässt Kalaschnikows Mutter die Kinder, um mit ihrer ältesten Tochter auf dem Land Kleidung gegen Lebensmittel zu tauschen. Sie hinterlässt den vier Zurückgelassenen minimale Vorräte, kann aber nicht mehr zurück kommen, weil die Stadt, Hauptquartier der 6. Armee, von den Deutschen abgeriegelt wird.
Nach zehn Tagen findet die Nachbarin die Kindern, eines, Wowa ist schon gestorben. Die drei anderen werden von den Deutschen abgeholt. Einem, Victor, gelingt die Flucht. Nikolaj Kalaschnikow und seine Schwester Vera aber kommen ins Kinderheim Sokolniki am Rande der Stadt. Das Heim ist bei bis zu minus 40 Grad unbeheizt, die Hunderte Kinder können sich nur gegenseitig wärmen. Auch zu essen gibt es nichts. "Als wir ankamen, flehten uns die anderen Kinder um Brot an", erzählt Kalaschnikow, "aber wir hatten ja selbst keines."
Die Sterblichkeit ist hoch
Die Kinder des Heims erbetteln Abfälle und essen alles, was sie im Wald an Essbarem finden. Die Sterblichkeit unter den Kindern ist groß. Immer wieder kommen deutsche Soldaten. Sie deportieren behinderte Mädchen und Jungen, ebenso Kinder aus jüdischen oder "Zigeuner"-Familien. Eine Reihe von Kindern - 39 Namen sind bekannt - wird nach "Rasse"-Kriterien ausgewählt und nach Deutschland verschleppt, um dort eingedeutscht zu werden.
Nichts als Menschenmaterial sind auch die verbliebenen Kinder: Nach den Berichten der Überlebenden wird ihr Blut für ein Lazarett der deutschen Luftwaffe gebraucht, es liegt gleich um die Ecke. Ein- oder zweimal die Woche wird Blut gesammelt - anscheinend auch auf Bestellung, wie der Kiewer Journalist Wladimir Rudyuk vor ein paar Jahren recherchiert hat. Den Kindern sagt man, es handle sich um Impfungen. Sie wissen es besser, denn ihnen geht es danach nie besser, nur schlechter.
"Immer, wenn ein deutsches Auto kam, rannten wir in den Wald", erzählt Kalaschnikow. Ein Rotkreuz-Wagen ist nach den Berichten der Augenzeugen besonders gefürchtet: Wer da hinein gezerrt wird, dem wird der Arm abgebunden, kurz desinfiziert und eine große Spritze angesetzt. "Uns wurde Blut abgenommen, bis wir ohnmächtig zu Boden sanken", erinnert sich Kalaschnikow, "manchmal sank der Puls auf Null."
Wer überlebt, bekommt Saccharin-Bröckchen, ein Stück Brot und Wasser. "Wer nicht wieder zu sich kam, um den war es geschehen." Die leblosen Körperchen werden in einen Kellerraum gebracht und mit Schnee bedeckt. "Am nächsten Tag kamen die Hunde und holten sich das Fleisch", erzählt Kalaschnikow. Eine Freundin von ihm, Maria oder auch Mascha genannt, wacht nach der Blutentnahme nicht mehr auf und hat keine Puls mehr. Erst auf dem Weg zum Wald öffnet sie wieder die Augen. Dort sollte sie mit den anderen leblosen Kindern verscharrt werden - auf Anordnung der deutschen Besatzer nackt, um keine Hinweise über ihre Herkunft zu hinterlassen. Jeden Monat sollen im Heim etwa 100 Kinder gestorben sein. Immer wieder werden neue Kindergruppen nach Solkolniki gebracht, die Reihen wieder gefüllt.
Kurz vor der Befreiung Charkows durch die Rote Armee im August 1943 wollen die Deutschen das Heim anzünden - mitsamt allen Insassen. Es soll keine Zeugen geben. Die Kinder werden im ersten Stock des Heims zusammen getrieben, erinnert sich Kalaschnikow. Fenster und Türen werden vernagelt. Die Deutsch sprechende Heimleiterin, von den Kindern nur "Mama Schura" genannt, wirft sich den deutschen Soldaten zu Füssen und bittet um Erbarmen für die Kindern.
Und, erstaunlich, die Deutschen zeigen Mitleid. Sie zünden pro forma nur ein Nebengebäude an. "Das waren gute Deutsche", sagt der Überlebende. Er deutet auf ein Foto, das von den befreiten Kindern auf der Treppe vor dem Kinderheim geschossen wurde. "Das mit dem weißen Hemd in der obersten Reihe bin ich", berichtet er, "und mit ihr", er deutet auf ein Mädchen in der Mitte des Fotos, "habe ich immer getanzt." Von den geschätzten 2.000 Kindern im Heim Sokolniki haben nur 56 die Befreiung durch die Sowjetarmee erlebt. Kalaschnikow und seine Schwester Vera gehören dazu.
Warum aber ist diese Geschichte so wenig bekannt? Die überlebenden Kinder, so erklärt es Kalaschnikow, waren gerade wegen ihrer Leidensgeschichte unter Stalin geächtet, weil sie den Deutschen ja Blut "gespendet" hätten. Ähnlich den sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern in Deutschland galten sie nach der obskuren Logik des Diktators irgendwie als Kollaborateure. Kalaschnikow erinnert sich an eine öffentliche Feier zu Lenins Geburtstag am 22. April, als alle Kinder der Stadt zu Ehren des marxistischen Revolutionärs Schals geschenkt bekamen - nur die überlebenden Kinder des Heims nicht. "Wir fühlten uns wie Verräter", sagt er heute.
Eine Mitgliedschaft in der kommunistischen Jugendorganisation oder in der Partei war ausgeschlossen, berichtet Kalaschnikow, sie wurden nicht genommen. Eine Folge ihrer Zeit im Heim, für manche auch ein Karrierehindernis. Bis zu den Perestroika-Jahren unter Gorbatschow haben Kalaschnikow und die anderen Überlebenden nie von ihrer Leidenszeit und von den Blutentnahmen erzählt. Aber seit ein paar Jahren treffen sich nun die früheren Heimkinder einmal im Jahr, am 2. Mai, in der Nähe von "Sokolniki". Nur noch 13 Überlebende sind übrig. Sie gedenken ihrer Toten.
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