Die Kesselflicker von Stalingrad

■ Bemerkungen zum ZDF-Fünfteiler „Der Verdammte Krieg – Entscheidung Stalingrad“, der im Januar ausgestrahlt wurde

I.

Eine Schlachtenbummlerin und ein Schlachtenbummler auf der Suche nach Gemeinsamkeiten und Gefühlen. Auf den Schlachtfeldern in und um Stalin- und Leningrad sowie des Kaukasus erklären sie: „... nur gemeinsam macht es Sinn, den schrecklichen, verdammten Krieg noch einmal darzustellen, daß wir diese Bilder gemeinsam zeigen, ist doch auch ein Zeichen der Versöhnung.“

„Da, Guido“, sagt Raissa Jewdokimowa vom russischen Fernsehen zu Dr.Guido Knopp (ZDF) – das Pärchen demonstriert nicht nur Einigkeit, es inkorporiert sie geradezu, stellvertretend für die Fernsehzuschauer in Leipzig und Irkutsk, in Berlin und Moskau, in Hamburg und Leningrad – eine „Ringsendung“ ganz anderen Inhaltes und ganz anderer Inspiration als diejenige, die an Weihnachten vor 50 Jahren über alle deutschen Sender ging.

Gefühlsduselei, damals wie heute. Zwei Völker, die einander soviel Leid angetan haben, finden über ihre Nachkriegsgeborenen zur Harmonie zurück. So konnte es nicht ausbleiben, daß Elie Wiesel schon im Vorfeld des Medienereignisses Stalingrad Unmut zu Gehör brachte: „... warum jedoch macht das Volk der Täter soviel Aufhebens um Hunderttausende Verhungerter, Erfrorener und Erschossener in Stalingrad, wenn gleichzeitig in Auschwitz, Sobibor, Majdanek, Treblinka und anderswo Millionen ermordet wurden? Weil es seine eigenen Toten waren? Eher wohl, weil ihr sinnloses Massensterben sich vor den Augen der Welt abspielte – im Gegensatz zum Rassenmord von Auschwitz... “

Wir entnehmen dieses Zitat dem Monatsjournal des ZDF, aus einem Beitrag von Guido Knopp über sein Stalingradprojekt, er läßt es unkommentiert so setzen und abdrucken, wie es ihm auf den Schreibtisch gelegt wurde. Das spricht für seine Integrität, auch für sein berechtigtes gutes Gewissen, es ist ihm keine Unterlassungssünde vorzuwerfen... Schildert doch die zweite Folge von „Der verdammte Krieg – Entscheidung Stalingrad“ bereits ausführlich den Genozid an Juden und Slawen; dazu die Besatzungspolitik in der Sowjetunion, die in engstem Zusammenhang mit dem Partisanenkrieg in den besetzten Gebieten dargestellt wird. Hier, in der zweiten Folge der deutsch-russischen Koproduktion, taucht kurioserweise der Journalist Peter von Zahn (früher „Windrose“) auf. Wir erfahren zu unserer aller Überraschung, daß er als Mitglied einer „Propagandakompanie“ über die Partisanenbekämpfung schrieb. Artikel welchen Tenors und für welches Organ – das wird uns nicht zur Kenntnis gebracht.

Nach einigen Auslassungen über die „berüchtigte SS-Brigade Dirlewanger“, einigen Worten der Betroffenheit über den von Stalin befohlenen Massenmord an polnischen Offizieren in Katyn, ist, wie aus dem Hut gezaubert, unser Pärchen wieder da, findet sich wieder in Harmonie über seinem „gemeinsamen Schmerz“. Der wird in die dritte Folge („Leningrad“) mit hinübergenommen. „Gemeinsam“ folgt man nun den Spuren des massenhaften Hungertodes – aus Briefen eines sterbenden Mädchens, das seine sterbende Familie und Verwandtschaft und Nachbarschaft beschreibt, liest (im Off) Rosemarie Fendel mit „brüchiger“ Stimme Reflexionen über den Hungertod.

Raissa: „... hier sollten Menschen vernichtet werden ... wußten das deutsche Soldaten?“

Guido: „Ich glaube nicht.“

A.H.: „Die Stadt ist auszuhungern ... Kapitulationsangebote werden nicht angenommen.“

Dazu wird von „innerer Blockade“ des KGB berichtet, also dem Befehl zum Ausharren bis zum Hungertod... von „Hungerwahn“ ist die Rede: Eine junge Frau ernährt sich von einem (ihrem?) an Hunger gestorbenen Kind.

Wieder das Pärchen.

Dr.Knopp: „Als Deutscher hier zu stehen ist bedrückend... [zu Raissa] ... wir können nur beten... “

So anständig, um nicht zu sagen: hochanständig Betroffenheitsrhetorik dieser Art gedacht und gemeint ist, sie mutet um so deplazierter und peinlicher an, je aufgewühlter und bewegter sie dem Sprechorgan entquillt. Nun ist Dr.Knopp unseligerweise nicht nur von eben beschriebenem Mitteilungsdrang beseelt, über seine Gefühle als Deutscher Auskunft zu geben, gleichzeitig treibt ihn ein offenbar unstillbarer Wissensdurst an, den Gefühlen seiner GesprächspartnerInnen zur Artikulation zu verhelfen. Er möchte zum Beispiel gern wissen, was ein Schwerverwundeter „fühlt“, der von seinem „Spieß“ zu einem der letzten Flugzeuge geschleppt wird, die den Kessel Stalingrad noch verlassen können. Der Angesprochene ist von der gefühllosen Neugierde Dr.Knopps wie vor den Kopf gestoßen, der setzt noch einen drauf: „Hatten Sie nicht ein schlechtes Gewissen gegenüber denjenigen, die im Kessel bleiben mußten?“ Was will der Doktor hören, was erwartet er als Antwort auf solche Fragen? Etwa das wider alle „deutsche“ Soldatenehre plötzlich aufbegehrende „Kameradenschwein“, das vor Genugtuung grunzt?

II.

Nach dem Warm-up „Weihnachten in Stalingrad“ am 23.Dezember 1992 greifen Guido Knopp und Regisseur und Drehbuchautor Harald Schott auf Stilmittel des Erzählkinos zurück, auf die Ellipse und die Rückblende, um darin, sozusagen „eingewickelt, chronologisch“ die „Vorgeschichte“ der „Tragödie“ zu erzählen (Folgen 1, 2, 3). Schwerpunktmäßig werden mit den Folgen „Tödliche Weisung“ (1), „Haß wider Haß“ (2) und „Leningrad will überleben“ (3) zunächst einmal Gegengewichte geschaffen, um dem fatalen, am Vorweihnachtsabend entstandenen Eindruck entgegenzuwirken, man wolle die deutsche Kollektivschuld in einem Sumpf von Gefühlen („weihnachtsbotschaftsmäßig“) absaufen lassen.

Die Folgen 2 und 3 rufen in Erinnerung die Versklavungs- und Ausrottungspolitik, die bereits seit Beginn von „Barbarossa“ (22.Juni 1941) während des Vormarsches aktiv betrieben wurde, sowie den russischen Partisanenkrieg; die Blockade Leningrads (sog. „Hungerblockade“), die die Tötung der gesamten Leningrader Zivilbevölkerung sowie der „Festungstruppen“ beabsichtigte.

Warum dieses Montageprinzip angewandt wurde, liegt auf der Hand: Es werden zunächst dargestellt und verkörpert – von und durch Raissa Jewdokimowa und Guido Knopp – „Völkerverständigung“ und Gefühle, „gemeinsame Trauer, gemeinsame Gebete“, gegenseitige Vergebung, ein Versprechen auf künftige Harmonie. Um aber die Erfüllung des Versprechens zu „erleben“, bedarf es des „Opferganges der 6. Armee“, ihr Leiden im Kessel von Stalingrad ist ein Schaustück deutscher Katharsis, nachgerade „kultische Reinigung“.

III.

Die beiden letzten Folgen des Unternehmens „Die Falle schnappt zu“ (4) sowie „Das Ende an der Wolga“ (5) – lassen Dr.Knopp und Raissa Jewdokimowa nur noch wenig Zeit für Auftritte, in denen vor den Kulissen ehemaliger „Großkampftage“ am Getreidesilo, vor dem „Roten Oktober“, auf dem berühmt-berüchtigten Mamaia- Hügel von Ergriffenheit oder Erschütterung gesprochen werden kann. Gleich zu Beginn der vierten Folge rafft sich Dr.Knopp geradezu „ruckartig“ zum Strategen und Taktiker auf und steigt in die „Lage“-Kritik ein: von „Dilettantismus“, von „Sinnlosigkeit“ von „Wahnsinn“ ist ab jetzt die Rede, die Diskussion über richtige und falsche Entschlüsse entbrennt.

Außen vor bleiben dabei im ZDF Erörterungen und Erkenntnisse, die die Legendenbildung auf beiden Seiten durchleuchten und damit auch stören könnten.

Die sogenannte Manstein- These, ein nach dem Hitler-General benanntes, beliebtes revisionistisches Versatzstück der deutschen Seite, wird nicht einmal kritisch erwähnt. (Sie wird dagegen am 28.Januar in ORF1 diskutiert, wo ein Oberst Busse als Filmkonserve die „Sinnhaftigkeit“ des Durchhaltebefehls erläutern darf.) Kernpunkt dieser These ist die Fixierung der sowjetischen „Obersten Führung“ auf Stalingrad, die der des deutschen Hauptquartiers ähnelte und der sowjetischen Armee letzlich einen größeren Durchbruch der Front unmöglich gemacht haben soll (und damit auch eine „Verkürzung“ des Krieges).

Erst Armin Steuer und Gerd Ruge lassen in der ARD Dr.Manfred Kehrig vom Militärarchiv in Freiburg zu Wort kommen („Nachdenken über Stalingrad“, 31.Januar): „... das Interessante ist, daß auch die sowjetische Historiographie bekennt, daß das Ausharren der 6. Armee doch so viele sowjetische Großverbände gebunden habe, daß es ihnen nicht möglich war, den entscheidenden Stoß durch die italienischen und ungarischen Armeen auf Rostow zu führen... wobei nicht nur die ganze Kaukasusarmee, sondern der ganze Südflügel der Heeresgruppe Don in einen riesigen Kessel gekommen wäre... “

Warum hat Guido Knopp solche Überlegungen außen vor gelassen? Weil sie beim harmoniesüchtigen „gemeinsamen Beten“ gestört hätten. Eberhard Schubert