: Die „Jahrhundert-Chance“ ist noch nicht vertan
■ Koalitionsparteien müssen stärker in den politischen Prozeß eingreifen / Kita-Konflikt ging bei SPD und AL an die Substanz / Koalitionsvereinbarungen müssen fortgeschrieben werden
Es ist schon eigenartig: Da übertrifft die Senatskoalition gerade den „Haltbarkeitsrekord“ des rot-grünen Bündnisses in Hessen, da wurde in München eine Stadtregierung mit den gleichen Farben gebildet, und in Niedersachsen schickt man sich an, dem Berliner Beispiel zu folgen. Ausgerechnet aber in Berlin soll nun nach einem guten Jahr alles vorbei sein. Ein Teil der AL will jetzt den Ausstieg aus der Koalition. Man sei es leid, sich „zehn bis zwölf Stunden mit dem Kollegen Sachzwang um die Koalitionsachse“ zu drehen, man müsse „nicht mehr Kröten, sondern Elefanten“ schlucken, so jedenfalls Arkenstette/Gukelberger in den letzten 'Stacheligen Argumenten‘.
Die „Jahrhundert-Chance“ - von der Ströbele einst sprach ist gewiß nicht umgesetzt worden, aber ist sie schon vertan? Berlin ist noch lange nicht die „Modellstadt für menschliche, soziale Lösungen der bestehenden Probleme“, von der Walter Momper schwärmte, aber ist das innerhalb eines Jahres denkbar? Systemverändernde Reformen sind ausgeblieben, denn mit der Bildung einer rot-grünen Senatskoalition sind noch lange nicht die gesellschaftlichen Kräfte neu erweckt worden, die zur Durchsetzung großer Reformwerke notwendig sind.
In der gegenwärtigen Debatte über Fortsetzung oder Bruch der Senatskoalition müssen die Erfolge des ersten Jahres benannt werden: es gibt den Einstieg in eine neue Verkehrspolitik, ausbaufähige Ansätze für eine neue Frauenpolitik, wichtige Entscheidungen im Umweltschutz, die Durchlüftung des Verfassungsschutzes, bedeutende Umstrukturierungen im Justizbereich und vieles andere mehr. Nirgendwo sind die Erfolge akribischer aufgelistet worden als in dem 64 Seiten starken Rechenschaftsbericht der AL -Fraktion und ihrer Senatsmitglieder. Alle drei Senatorinnen kamen in ihrem Schlußresümee zu eindeutig positiven Ergebnissen. Auf Grundlage dieser Rechenschaftsberichte hatte sich die AL-MVV noch am 18.Februar mit überwältigender Mehrheit für die Fortsetzung der Koalition ausgesprochen. Soll all das jetzt nicht mehr wahr sein? Haben die Auseinandersetzungen um den Kita-Streik oder die geplante Ansiedlung von Daimler-Benz am Potsdamer Platz so viel verändert? Dabei hat zwar jeder Konflikt seine eigene Geschichte, sie zeigen aber auch allgemeine Defizite der Koalition und der sie tragenden Parteien auf.
Es ist richtig: der Kita-Streik ging an die Substanz. Nicht nur, weil hier ErzieherInnen streikten, die das rot-grüne Bündnis herbeigesehnt und so viel Hoffnung in eine neue Politik gesetzt hatten. Gelitten hat keineswegs nur die AL. Ein Streit zwischen Gewerkschaften und SPD ist vor allem erst einmal eine Auseinandersetzung innerhalb der Arbeiterbewegung. In SPD-Abteilungen und Kreisverbänden sind die Meinungen unversöhnlich aufeinandergeprallt, und es wurden Wunden gerissen, die nur schwer verheilen. Es war schmerzhaft zu lernen, daß es auch unter sozialdemokratisch geführten Regierungen harte Konflikte mit Gewerkschaften geben kann. War dies schon für die SPD schwer zu akzeptieren, so galt das erst recht für die AL. Ihre „vorbehaltlose Unterstützung“ des Kita-Streiks beraubte sie ihrer eigenständigen Rolle.
Ganz ähnlich die Auseinandersetzung um die Ansiedlung von Mercedes-Benz am Potsdamer Platz. In ihrer vorbehaltlosen Betroffenen-Politik hat sich die AL bis heute nicht entscheiden können, ob sie nun denen folgt, die Mercedes -Benz überhaupt nicht in der neuen Mitte Berlins haben wollen, oder ob sie sich auf die Seite derer stellt, die eine derartige Ansiedlung unter Akzeptierung der Ergebnisse eines städtebaulichen Wettbewerbs befürwortet. Bislang hüllte man sich in Formelkompromisse. Dabei hätte der Konflikt um die Planung am Potsdamer Platz als Beispiel herhalten können, wie eine demokratische Öffentlichkeit Einfluß ausüben kann; sie war es doch, die den Senat zur Verlängerung der Fristen und zum städtebaulichen Wettbewerb bewog.
Natürlich hat auch meine Partei Probleme mit der Formulierung einer eigenständigen Position. Nach acht Jahren Opposition war man zu Recht stolz auf die wiedererrungene Regierungsmacht. Dabei entsteht schnell die Gefahr, lediglich Momper und dem Senat wohlgefällig beim Regieren zuzusehen statt auch eigene Positionen zu formulieren und sie in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Nach der Unzufriedenheit schon während des Kita-Streiks bezieht sie sich nun auf die Deutschlandpolitik. Die von Bonn vorgegebene Geschwindigkeit des Vereinigungsprozesses gibt der Exekutive einen solch erdrückenden Vorsprung, daß Fraktion und Partei endgültig den Anschluß zu verlieren drohen. Deshalb kann es nicht verwundern, daß an dieser Stelle der Konflikt in der Sozialdemokratie ausbricht: die jetzt beginnende Diskussion wird mit Sicherheit zu einer Neubestimmung der Rollen von Partei, Fraktion und Senat führen.
Auch die AL hätte eine Diskussion über ihre Strukturen bitter nötig. Sind doch die Zeiten endgültig vorbei, als man noch jede Betroffeneninitiative vorbehaltlos unterstützen konnte. Die Mitgliedervollversammlungen erlauben sich leider immer noch den Luxus, mit durchschnittlich 300 Anwesenden von den MandatsträgerInnen ultimativ die Durchsetzung von Koalitionsvereinbarungen einzufordern, formelhaft mit dem Ausstieg zu drohen und ansonsten die Hände in den Schoß zu legen. Der nun von einigen propagierte Ausstieg ist nichts als die Flucht vor dieser längst überfälligen Reformdebatte. Mit dem Zauberwort „Tolerierung“ glaubt man, zwei sich widersprechenden Grundsätzen treu bleiben zu können. Man will weiterhin Betroffenenpolitik für jeden und alle betreiben und zugleich nicht die Verwantwortung für das Scheitern einer linken Regierungspolitik übernehmen. Die Berliner SPD hatte aber bereits während der Koalitionsverhandlungen klargemacht, daß sie nicht so töricht ist, sich auf das Vabanquespiel wechselnder Mehrheiten einzulassen. Die enormen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Vereinigung Berlins könnten von beiden Parteien als Chance genutzt werden, wieder verstärkt gestaltend einzugreifen. Keine Stadtregierung kann dies alleine schaffen. Dazu bedarf es eines gesellschaftlichen Konsenses, den nur Parteien herstellen können. Es geht um nicht weniger als um die Fortschreibung der Koalitionsvereinbarungen, um Prioritätensetzung im sozialen Bereich, um die Gestaltung einer neuen demokratischen Verfassung und um die Rahmensetzung für das Zusammenwachsen zweier bisher getrennter Verwaltungen. Nur wenn diese Herausforderungen auch aufgegriffen werden, kann ein Zusammenwuchern verhindert werden, können sich Bürgerinnen und Bürger hier wie dort in den Vereinigungsprozeß einschalten und sich mit ihm identifizieren. Gegenwärtig fungieren sie lediglich als Zuschauende.
Sowohl in der AL als auch in der Berliner SPD gibt es die Bereitschaft, diese Aufgaben anzupacken. Die MVV der AL hat am 24. März fünf Arbeitsgruppen eingerichtet, die Positionen zu diesen Fragen ausarbeiten sollen. Der Landesvorstand der SPD hat am 14. Mai Kommissionen beauftragt, die Arbeitsaufträge des Landesparteitags zu erfüllen. Es wird Zeit, daß jetzt die verschiedenen Gremien gemeinsam an die Arbeit gehen können. Und nur die gegenwärtige rot-grüne Konstellation hat auch nach Gesamtberliner Wahlen die Aussicht auf eine stabile Mehrheit. So gilt auch in Zukunft: Rot-Grün - was denn sonst?
Heide Pfarr (SPD), Senatorin für Bundesangelegenheite
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