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Archiv-Artikel

Die Höhe der Zeit ist relativ

Rot-Grün hat nicht zu den Problemen gepasst, sagt der Kanzler. Falsch. Die Koalition hat sich mit Unzulänglichkeiten, Unschlüssigkeiten und Beliebigkeiten selbst heimgesucht

Das Bashing von Rot-Grün setzt sich in wechselseitigem Bashing der Koalitionspartner fortDie Profilierung wichtiger Themen wurde zugunsten individueller Profilierung vernachlässigt

Der Satz, den Gerhard Schröder zu Gunter Hofmann in der Zeit sagte, war sibyllinisch formuliert: „Rot-Grün“ habe nicht wirklich zu den Problemen gepasst. Sibyllinische Sätze sind stets allgemein und sollen zugleich tiefdeuterisch sein. Sie können viel und auch nichts bedeuten. Zu welchen Problemen hat „Rot-Grün“ nicht gepasst, und gilt das mehr für „Rot“ oder „Grün“ oder für beide, mehr für deren Parteien und Fraktionen oder für das Regierungspersonal? Gab es zu viel oder zu wenig „Neoliberalismus“ oder „Multikulti“? Wurde dem Gerechtigkeitsverlangen zu wenig oder immer noch zu viel Aufmerksamkeit geschenkt? Haben die Parteien und Fraktionen von „Rot-Grün“ zu wenig oder zu viel Regierungsvorlagen abgenickt, waren sie zu selbstversessen oder zu selbstvergessen? Und vor allem: Welche Konstellation hätte besser zu den Problemen gepasst?

Aus dem zierten Satz kann jedermann herauslesen, was er will. Jeder kann sein Steckenpferd reiten. Wenn Raum für beliebige Interpretationen bleibt, wird der dominierenden veröffentlichten Meinung die Deutungshoheit überlassen, also dem medialen Mainstream. Und dieser ist momentan auf ein Bashing von „Rot-Grün“ eingestellt, das sich in einem wechselseitigen Bashing der Koalitionspartner fortsetzt – nach dem Motto „Rette sich, wer kann“. Dabei reklamiert jeder die erreichten Erfolge für sich und schiebt die Misserfolge auf andere. Dann werden auch im Vokabular von SPD-Politikern die Grünen wieder zu Wirtschaftsfeinden, denen es mehr um Hamster und Fledermäuse gehe. Und im Vokabular von Grünen-Politikern werden Sozialdemokraten zu umweltblinden Wachstumsfetischisten. „SPD pur“ oder „Grün pur“ wird plakatiert, obwohl kaum zu ermitteln ist, welche Farbtönung das jeweilige „pur“ eigentlich haben könnte, wenn wir etwa die jeweiligen Positionen von Wolfgang Clement und Andrea Nahles (SPD) oder von Oswald Metzger und Renate Künast (Grüne) betrachten.

Die Folge ist, dass „Rot-Grün“ das Bild eines zerrissenen Haufens bietet, obwohl sie sich in ihren kommenden Wahlaussagen ähnlicher sind, als es den Anschein hat – und dass Union und FDP als ruhender Pol erscheinen, obwohl sie in sich widersprüchlicher und zerstrittener sind als SPD und Grüne. Und die nächste Folge wird wahrscheinlich sein, dass sich die Interpretation durchsetzt und bis auf weiteres hält, die rot-grüne Koalition sei eine politische Missgeburt gewesen. Eine, die vor der Herausforderung der Zeit – vor allem dem Kostensenkungswettlauf zwischen Unternehmen, um die Gesellschaft „fit“ zu machen für die globale Wachstumsschlacht – versagen musste. Und eine, die immer noch zu viele soziale und ökologische Hobbys gepflegt habe, als sie startete. In jedem Fall aber nicht auf der „Höhe der Zeit“. Und so kann es kommen, dass demnächst „Neoliberalismus pur“ zur parlamentarischen Mehrheit getragen wird, während dieser zeitgleich europa- und weltweit als nicht gesellschaftsfähig erkannt wird.

Das hervorstechende politische Zeitmerkmal ist das Auseinanderklaffen zwischen politischen Fakten und Fiktionen, von Substanziellem und Virtuellem, von Zeitproblemen und Zeitgeist. Die Orientierung am jeweils Letzterem wird zum zwangsläufig flüchtigen Erfolgsmuster von Parteien und politischen Akteuren. Im postmodernen Zeitalter, so der amerikanische Philosoph Arran Gare, wird Beliebigkeit zur politischen Tugend. Die bisherigen Gesellschaftsentwürfe haben ihre Wirkungs- und Überzeugungskraft verloren. Statt einen neuen zu erarbeiten, dominiert Misstrauen gegenüber solchen Versuchen. Alles scheint auf einmal und gleichzeitig zu gehen: globale Wirtschaftsliberalisierung und sozialer Ausgleich, Klimaschutz und Billigflüge, EU-Erweiterung und -vertiefung, Abbau der Staatsverschuldung und Steuersenkung. Jede so angelegte und praktizierte Politik kann nicht mehr zu den Problemen passen – und in den Elementen, in denen sie dazu passt, ist sie widersprüchlich und kann sich nicht überzeugend vermitteln. Die Widersprüche werden medial übertüncht, bleiben aber der Gesellschaft über kurz oder lang nicht verborgen. Der Zwiespalt zwischen Gesellschaft und ihren Repräsentanten wächst, und in diesen stürzen zuerst die Regierungsbeauftragten.

Maßgeblich für die Frage, ob eine Partei zu den Problemen passt, ist der Problemhorizont der Fragesteller. Dabei muss in Rechnung gestellt werden, dass jede Partei eine Werte- und Interessenrepräsentanz zu sein hat und traditionelle Einstellungen, Verhaltensgewohnheiten mit sich schleppt, die Neuorientierungen erschwert. „Man muss auch dann auf der Höhe der Zeit sein, wenn sie es nicht ist.“ Diese Anforderung, die Stanislaw Lec aphoristisch formuliert hat, ist deshalb immer nur annähernd erfüllbar. Sieht man die Gegenwartsprobleme und Zukunftsherausforderung darin, dass die Industriegesellschaften in einer existenziellen Krise stecken, weil sich ihre Ressourcenbasis erschöpft und die Folgen fossilen und atomaren Energieverbrauchs nicht allein die natürlichen Lebensgrundlagen, sondern auch die Grundlagen allen Wirtschaftens gefährden; darin, dass die extrem einseitig angelegte wirtschaftliche Liberalisierung im europäischen und globalen Maßstab die soziale Balance aller Gesellschaften zerstört; und darin, dass die alten politischen Rezepte nicht mehr dazu taugen, diesen Herausforderungen entsprechen zu können – dann lag oder liegt „Rot-Grün“ relativ mehr auf der Höhe der Zeit als alle anderen denkbaren Formationen. Nicht, dass sie diesen Herausforderungen befriedigend entsprochen hätten (in der Energiefrage relativ mehr als in anderen), aber es sind Fragen, die bei „Rot-Grün“ wenigstens gestellt werden. In der Summe hat sie ihnen eher zu wenig als zu viel entsprochen.

Dass „Rot-Grün“ jetzt dennoch den Verlust der Regierungsmacht vor Augen hat, liegt daran, dass sie dafür in einer anderen Frage zu modern war: Die Träger dieser Koalition haben die Profilierung dieser Themen und der dazugehörigen Konzepte zugunsten ihrer jeweiligen individuellen Profilierung vernachlässigt. Statt Themen zu vergesellschaften, wurden die verfolgten politischen Projekte individualisiert, personalisiert und privatisiert – und damit entpolitisiert. Dies ist die eigentliche Quelle der Fehler, Unzulänglichkeiten, Unschlüssigkeiten und Beliebigkeiten, mit denen sich „Rot-Grün“ und ihre Beteiligten selbst heimgesucht haben. Deshalb blieben Projekte unvermittelt und wurden Widersprüche nicht ausgetragen, mit denen sich Politik auseinander setzen muss.

Nichts spricht dafür, dass die potenziellen Nachfolger von „Rot-Grün“ mehr auf der geforderten Problemhöhe liegen. Alles spricht dafür, dass sie einem anderen Aphorismus von Stanislaw Lec huldigen: „Wir befinden uns zwar auf dem falschen Gleis, aber gleichen dieses Manko durch erhöhtes Tempo aus.“ „Rot-Grün“ wird noch einmal neu erfunden werden müssen. Wenn nicht jetzt, dann demnächst. HERMANN SCHEER