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Archiv-Artikel

Die Haare des Bösen

Ergebene Jünger von Andy Warhol, oder: Pop-Art für Hermeneuten

Der 21. November 1995 war ein großer Tag für Beatles-Fans. Die Wiedervereinigung hatte begonnen! Bei WOM drückten sich Männer zwischen vierzig und fünfzig mit Tränen in den Augen gegenseitig Kopfhörer ans Ohr, die Freude über „Free as a Bird“ war endlos. Das Liedlein war zwar nur eine grobe Skizze, die John Lennon im Jahr vor seinem Tod in einen Kassettenrecorder hineingenuschelt hatte. Aber nachdem Paul, George und Ringo zusammen mit Jeff Lynne, dem waldschrathaften Chef des Industrial Light & Magic Orchestra – kurz: ELO –, das Stück durch die Bandmaschinen gespult hatten, war einwandfrei Beatles herausgekommen. Nicht ganz „Strawberry Fields Forever“, doch immerhin guter Schnitt für eine Platte wie, nun ja, „Abbey Road“ vielleicht.

Fans sind so. Sie haben ihr eigens Leben kurzgeschlossen mit einem anderen, wenn auch imaginären, das sie hegen und pflegen. Sie wissen, dass Donovan bei den Aufnahmen zum „Weißen Album“ Paul McCartney die Geschichte vom „Blackbird“ erzählt hat; sie haben Lennons letzte Live-Ansage zum Abschiedskonzert im Shea-Stadium; und sie werden nicht aufhören, nach unveröffentlichten Aufnahmen zu suchen, auf denen Ringo im Intro zu „Good Night“ gehustet hat. Denn all das brauchen sie für ihr Bild vom begehrten Objekt, das vollständig werden soll und deckungsgleich mit dem eigenen Ich.

Andy Warhol hatte höllische Angst vor solchen Leuten. Nicht nur wegen des 3. Juni 1968, als er von Valerie Solanas angeschossen wurde, nachdem sie als Dichterin in der „Factory“ abgewiesen worden war. In seiner „Philosophy of Andy Warhol“ schreibt er über Ruhm und die Aura des Stars, nach deren Nähe sich die Fans auch bei ihm sehnen. Sein Kommentar: „Nutty people are always writing me. I think I must be on some nutty mailing list.“ Durchgedreht sind diejenigen für ihn, die etwas von ihm haben wollen, was er selbst gar nicht hat und auch nie wollte: ein Leitbild.

Anders als in der Musik gibt es in der Kunst kaum Memorabilia, an denen man sich als Fan festhalten kann, wenn das Idol nicht so will, wie man es selbst gern hätte. Die Musik kommt aus den Boxen, die Bilder hängen in Museen überall auf der Welt. Wer „Can’t buy me love“ sucht, braucht nur in den nächsten Schallplattenladen zu marschieren; wer Warhols Serie der „Most Wanted Men“ sehen will, muss eben mal von Krefeld in die Schweiz, von Stuttgart nach Connecticut oder von Köln nach San Francisco reisen. Das bildet nicht, es nervt.

Natürlich gilt immer auch das Argument, man könne sich ebenso gut eine Reproduktion anschauen. Der Unterschied kommt allerdings beim Sehen: Welcher Bildband bringt auch nur eine Ahnung von 268,9 mal 416,9 cm „Orange Car Crash Fourteen Times“ rüber? Wie viel Meter siebgedruckter Farbe sind nötig, bis man versteht: „Red“ und „Disaster“ gehören bei Warhol zusammen, wenn er an elektrische Stühle denkt?

Es geht aber auch eine ganze Nummer kleiner. Genau genommen reichen 73,7 mal 57,8 Zentimeter aus. Das sind die Maße der Tuschzeichnung des „Profile of a Woman“ (Jackie Kennedy), mit der Warhol 1964 seinen „16 Jackies“ vorgearbeitet hat. Das ist das Bootleg für den Warhol-Fan, ein „Sesam, öffne dich“ der Pop-Art. Plötzlich sieht man, wie bezaubert Andy besonders von Jackies Frisur war, dass er zwischen ondulierter Haarpracht und allumspannender Weltkugel kaum noch trennen konnte. Big Hair oder Last des Atlas? Die kurze Stupsnase, das leicht wulstige Kinn scheinen förmlich erdrückt zu werden von den mit Kohle in Schichten gelegten Haaren. Auch die Wimpern stechen wie kunstvoll gefettete Blöcke hervor.

Nein, es gibt keine Zweifel: Ein Mann, der sich sein Leben wegen seiner frühen Glatze grämte, bis er wie zum Spott einen grauen Popmopp auf dem Kopf trug, er muss diese Fülle beneidet, bewundert, geliebt haben. Oder gehasst, denn die letztgültige Siebdruckserie aus dem gleichen Jahr zeigt Jackie mit einem lächerlichen Persianerhut oder unter einem Kopftuch bei den Trauerfeierlichkeiten zur Beerdigung von JFK. Diese verschlungene und dennoch absolut unwiderlegbare Hermeneutik lässt sich aber nur dann ablesen, wenn man die rare Zeichnung gleich neben dem Tafelbild sieht. Richtige Fans wissen ohnehin, was ich meine.

Harald Fricke veröffentlichte diesen Text anlässlich einer Warhol-Retrospektive 2001 in Berlin. Er handelt von dem, was er liebte

HARALD FRICKE über DER KOLUMNIST

Der Text von Philipp Maußhardt wird nachgereicht. Montag: Susanne Lang DIE ANDEREN