Die Grünen: Volkspartei der Beamten
Die Grünen schaffen zwar Umfragewerte von 20 Prozent, doch real gewinnen sie keine Wähler hinzu. Was ist also dran an der Rede von der "neuen Volkspartei"? Eine Analyse.
Das Wort von der neuen "Volkspartei" hören führende Grüne nicht gern. Es klingt ihnen zu sehr nach jener Klientelpolitik für Bauern, Großindustrie oder Mittelständler, die sie der Konkurrenz vorwerfen. Und noch einen Grund gibt es für diese Zurückhaltung: Sie wollen keine überzogenen Erwartungen an eine Partei wecken, die gerade einmal 52.000 Mitglieder zählt.
Deshalb reden grüne Funktionäre die eigenen Umfragewerte regelmäßig klein. Doch Fakt ist: Seit Monaten liegen die Partei im Bund stabil um die 20 Prozent - rund doppelt so viel wie bei der Bundestagswahl im September 2009. Was steckt dahinter?
"Der Zuwachs für die Grünen ist gar nicht so groß", urteilt der Göttinger Politologe Franz Walter. Nur hätten anderen Parteien enorm viele Wähler verloren, weil sich viele der Stimme enthielten. Dies zeige sich nicht nur bei Wahlen, sondern auch in Umfragen. "Sich zu den Grünen zu bekennen, war hingegen in den vergangenen Monaten eine honorable Angelegenheit."
Diesen Befund bestätigt eine Untersuchung des Media-Tenor-Instituts. Demnach kamen die Grünen in der Berichterstattung der Massenmedien seit dem Herbst 2009 im Durchschnitt fast durchgängig besser weg als alle anderen Parteien. Sich zu den Grünen zu bekennen, gilt als hip. So hip, dass im Oktober 19 Prozent der Befragten dem Meinungsforschungsinstitut Allensbach sagten, sie hätten bei der Bundestagswahl 2009 die Grünen gewählt - tatsächlich waren es nur 10,7 Prozent.
Viel mehr als der SPD oder der CDU ist den Grünen gelungen, ihre Anhänger zu halten. "Es ist eine große Leistung, Wähler über längere Zeit an eine Partei zu binden. Das war harte Kärrnerarbeit", sagt Steffi Lemke. Damit lobt die Politische Bundesgeschäftsführerin auch sich selbst. Qua Amt ist sie die oberste Wahlkampforganisatorin der Grünen.
Bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr erhielten die Grünen 4,6 Millionen Zweitstimmen; die 10,7 Prozent, denen dieses Resultat entsprach, waren ein Rekord in der 30-jährigen Geschichte der Partei. Allerdings lag die Wahlbeteiligung bei knapp 71 Prozent - der niedrigste Wert seit Gründung der Bundesrepublik. Damals profitierten Union und FDP am sichtbarsten von der Wahlmüdigkeit: Obwohl 300.000 Menschen weniger für sie stimmten als 2005, reichte es für eine schwarz-gelbe Regierungsmehrheit. Heute würden sogar noch weniger Bürger überhaupt wählen. 35 Prozent der Befragten gaben bei der jüngsten "offenen Sonntagsfrage" von Infratest dimap an, sie wollten entweder nicht wählen gehen oder seien noch unentschlossen, ob sie gingen.
Diesmal profitieren in besonderem Maße die Grünen von diesem Trend. Ihre Stimmenanteile wachsen, weil sie ihre Anhänger halten können, während die Zahl der Gesamtwähler schrumpft. Indirekt profitiert die Partei damit von der Politikverdrossenheit vieler Bürger. Statt auf die Wähleranteile sollte man auf die Zahl der Wahlberechtigten schauen, sagt der Politologe Walter. So ergebe sich ein klareres Bild über die politische Stimmung im Land. "Leider sind wir nun mal auf Prozentzahlen konditioniert."
Die Grünen profitieren von einem weiteren statistischen Effekt. Die geburtenstarken Jahrgänge, also die zwischen 1955 und 1965 Geborenen, bilden die Kernwählerschaft der Grünen. Während die Partei über Jahrzehnte kaum Zustimmung unter älteren Wählerinnen und Wählern fand, ändert sich das nun. Viele Babyboomer halten ihrer Partei auch im Alter die Treue. Sie hat heute in allen Alterskohorten eine nennenswerte Zahl von Anhängern. Das ist eine Leistung, die ihr kaum jemand zutraute.
Denn die Grünen begannen einst als Partei der jungen Wähler. Die Aufmüpfigen sind mit den Ex-Alternativen gealtert, anstatt sie als Jugendsünde abzuschreiben. "Diese Generation empfindet den Wandel der Partei als Prozess des Dazulernens", sagt Walter. Die 45- bis 60-Jährigen bilden die größte Wählergruppe der Grünen; 33,5 Prozent ihrer Wähler stammen aus dieser Altersgruppe.
Doch bei der Verwurzelung in der Babyboomer-Generation ist es nicht geblieben. Die angebliche Ein-Generationen-Partei hat die Weiterentwicklung gemeistert. Bei der Bundestagswahl schnitten die Grünen unter den 18- bis 24-jährigen Wählern am besten ab, errechnete Infratest dimap. 15,4 Prozent aller Erst- und Jungwähler stimmten für sie.
Infratest-Geschäftsführer Richard Hilmer erkennt darin einen Lohn für einen über Jahre aufgebauten und gepflegten Ruf: "Die Grünen haben es über die letzten drei Jahrzehnte verstanden, ihr jugendlich-alternatives Image einer etwas anderen Partei zu erhalten und damit auch die nachwachsenden Wählergenerationen anzusprechen." Das "hohe Maß an Glaubwürdigkeit", das vielen Wählern wichtig sei, habe "auch für Jungwähler große Bedeutung", so Hilmer.
Die Grünen sind stolz darauf. "Bei uns wächst ein starker Stamm nach", urteilt Steffi Lemke. "Außerdem liegt der Zuwachs unter den älteren Wählern nicht nur am Altern der Gründergeneration der Grünen. Wir gewinnen auch Stimmen von Menschen, die sich zum Beispiel enttäuscht von der SPD abwenden."
Das stimmt nur zum Teil. "Die guten Umfragewerte resultieren aus Zugewinnen aus allen Parteien", korrigiert Meinungsforscher Hilmer. Der Infratest-Chef macht zwar viele ehemalige SPD-Anhänger unter den Grünen-Sympathisanten aus. Das sei aber längst nicht alles: "Jeweils gut eine Million der neuen Sympathisanten kommen von der SPD, aus dem Regierungslager sowie aus dem Lager der Nichtwähler, eine weitere halbe Million von der Linkspartei."
Die alte These, die Grünen profitierten fast nur von der Schwäche der SPD, ist also haltlos geworden. Der Zuspruch von vormaligen Unions- und FDP-Wählern hat stark zugenommen. Dieser Umstand lässt jede Menge Raum für Interpretationen - und damit für politisches Kalkül. Parteilinke wie Steffi Lemke betonen weiterhin die Nähe vieler Sympathisanten zur SPD.
In einer internen Analyse der Bundestagswahl 2009 griffen linke Grüne die Frage einer Zeitung auf: "Wählen die Gelben jetzt grün?" Im Papier beantworten sie die Frage mit einem groß geschriebenen "NEIN". Realos wie Parteichef Cem Özdemir hingegen verweisen auf den Zuspruch bei als konservativ geltenden Wählerschichten - Handwerkern und mittelständischen Unternehmern beispielsweise. Realos und Linke versuchen so, ihren politischen Kurs zu legitimieren.
Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen. Der Ausstieg aus dem Atomausstieg und der Bruch von Schwarz-Grün in Hamburg kamen jedoch in den vergangenen Monaten der Parteilinken entgegen. Schützenhilfe bekommt diese auch von einer Allensbach-Untersuchung: Demnach stuft die Bevölkerung die Grünen nach wie vor als "deutlich links von der SPD" ein.
Wachsen die Grünen zu einer Massenpartei heran? Nein, urteilt Franz Walter. Wahre Volksparteien sind aus seiner Sicht nur jene Gruppierungen, die überwältigend große Anhängerschaften in allen Altersgruppen hinter sich vereinen können. Selbst SPD wie CDU würden diesem Anspruch kaum noch gerecht. Und das, obwohl beide Parteien zehnmal so viele Mitglieder haben wie die Grünen. Als Vorzeigebeispiel einer Volkspartei dient Walter die Union der Bundestagswahl 1976. Diese habe es damals geschafft, je fast die Hälfte aller jungen, mittelalten und alten Wähler an sich zu binden. Lang ist's her.
Es gibt ein weiteres Merkmal einer Volkspartei: Breite Wählerschichten können sich zumindest vorstellen, sie zu wählen. Anfang des Jahres brachte eine Umfrage von Infratest dimap Erstaunliches zutage: Für jeweils 55 Prozent der Befragten kam infrage, CDU/CSU beziehungsweise SPD zu wählen. Fast ebenso groß war der Anteil jener, die den Grünen nicht abgeneigt waren, nämlich 48 Prozent. Weit abgeschlagen waren die FDP mit 33 und die Linkspartei mit 24 Prozent. Wenn also eine der kleineren Parteien das Zeug zur "kleinen Volkspartei" hat, dann die Grünen.
Doch zeigt sich das auch in der Zusammensetzung ihrer Anhängerschaft? "Die Grünen haben nach wie vor ihre höchsten Zustimmungswerte bei Personen mit formal höherer Bildung", urteilt Meinungsforscher Hilmer. Bei Beamten, Angestellten, Selbständigen, Studierenden und Schülern. Wie groß die einzelnen Anteile sind, haben die Demoskopen nicht erfasst.
Sicher ist aber: "Zuletzt stießen die Grünen auch in Bevölkerungsgruppen auf steigende Zustimmung, in denen sie bislang schwach verankert waren." Und zwar unter Älteren, in der Landbevölkerung und im Süden der Republik. Der Protest gegen den Bahnhofsneubau Stuttgart 21 hat den Grünen neue Sympathisantenschichten erschlossen.
Von einer Verwurzelung in allen Bevölkerungsgruppen ist die Partei trotzdem noch weit entfernt. "Volkspartei sind die Grünen nur in einer Bevölkerungsgruppe", sagt Uniprofessor Walter: "Bei Beamten in der höheren Laufbahn."
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