Die Gesellschaft schwächt sich selbst

■ betr.: „Verlorener Zusammen halt“ von Sibylle Tönnies, taz vom 13.3. 98

[...] Ihrer These, daß der Universalimus mit der Massenarbeitslosigkeit unvereinbar sei, weil sie das demokratische Potential der Gesellschaft schwäche, stimme ich zu. Der letzte Satz von Frau Tönnies ist allerdings eine Zumutung, wenn sie schreibt „...für die Mehrheit aber gilt die Hegelsche Feststellung: Sie verliert mit der Arbeit ihre Verbindung zur Gesellschaft und schwächt das demokratische Potential.“

Nicht die arbeitslose Mehrheit schwächt das demokratische Potential der Gesellschaft, sondern diese schwächt sich selbst, indem sie die Massenarbeitslosigkeit zuläßt. Die Schuld liegt nicht bei den Arbeitslosen, sondern eindeutig bei der Gesellschaft. Diese Interpretation steht im Einklang mit der oben erwähnten These, wohingegen der zitierte Schlußsatz der These widerspricht.

Was Hegel betrifft – der sich nie zur Arbeitslosigkeit geäußert hat und auch nicht äußern konnte, weil er eine bürgerliche Gesellschaft charakterisiert, die es zu seiner Zeit in Deutschland nur in rudimentären Ansätzen gab –, so ist folgendes nachzutragen: In den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (Die bürgerliche Gesellschaft § 182–256) – veröffentlicht 1821, also 27 Jahre vor der ersten bürgerlichen Revolution in Deutschland – spricht Hegel von der „Notwendigkeit, daß das Besondere sich zur Form der Allgemeinheit erhebe, in dieser Form sein Bestehen suche und habe“.

Diese Aussage steht in direktem Zusammenhang mit folgendem Postulat: „Das Individuum gibt sich nur Wirklichkeit, indem es in das Dasein überhaupt, somit in die bestimmte Besonderheit tritt, hiermit ausschließend sich auf eine der besonderen Sphären des Bedürfnisses beschränkt. Die sittliche Gesinnung in diesem Systeme ist daher die Rechtschaffenheit und die Standesehre, sich, und zwar aus eigener Bestimmung durch seine Tätigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit zum Gliede eines der Momente der bürgerlichen Gesellschaft zu machen und als solches zu erhalten und nur durch diese Vermittlung mit dem Allgemeinen für sich zu sorgen sowie dadurch in seiner Vorstellung und der Vorstellung anderer anerkannt zu sein.“

Doch gerade diese Anerkennung verweigert die bürgerliche Gesellschaft den arbeitslosen Individuen, weil sie das Besondere (das arbeitslose Individuum) sich nicht zur Form der Allgemeinheit (des arbeitenden Mitglieds der Gesellschaft) erheben läßt. Erst dadurch fügt eine Gesellschaft sich Schaden zu. Die Arbeitlosen verlieren nicht den Zusammenhalt mit der Gesellschaft, sondern diese verliert ihre Legitimität, als eine bürgerliche anerkannt zu werden. Dr. Werner Wegmann, München