Die Frau mit dem sozialdemokratischen Durchblick

Wenn Berlins SPD am Samstag das neue Grundsatzprogramm absegnet, verdankt sie das Monika Buttgereit. Die Leiterin der Antragskommission hat monatelang 730 Änderungswünsche der Genossen gesammelt und gebündelt. Warum ackern sich jene an einem Programm ab, das so nie kommt?

Für Sozialdemokraten ist das Parteiprogramm schon immer eine Art weltliche Bibel gewesen

VON MATTHIAS LOHRE

Monika Buttgereit steht im Zentrum dieser Geschichte, denn sie hat einen undankbaren Job. Damit ist nicht ihre Arbeit als Grundschullehrerin in Reinickendorf gemeint, in einem „sozialen Brennpunkt“ nördlich des Märkischen Viertels, wie sie es nennt. Es ist das zweifelhafte Vergnügen der Genossin, einige ihrer kostbaren Sommerabende in der klotzigen SPD-Zentrale in der Müllerstraße in Wedding zu verbringen und dabei nichts anderes zu tun, als einzelne Zettel zu sortieren: 730 Stück insgesamt. Mit dezentem Berliner Akzent sagt sie: „Dort machen wir vor allem eins – bis zum späten Abend sitzen und schwitzen.“ Aber die Zettel, über die sie und ihre 16 Kollegen sich beugen, bewegen nun mal die Seele der Genossen. Und deswegen tut sie sich die Schwitzkur an.

Monika Buttgereit, halblange, hennarote Haare, 57 Jahre, ist SPD-Mitglied seit 1972. Auf die Frage, warum sie damals als junge Lehrerin in die Partei eintrat, sagt sie mit einem Achselzucken: „Na, das war die Zeit von Willy Brandt.“ Die Entspannungspolitik gegenüber der DDR und Ostberlin habe auch sie gepackt. Im Arbeiterbezirk Wedding ist sie geboren und aufgewachsen. Mit dem früheren Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD), von dem sie seit Jahren getrennt lebt, hat sie zwei erwachsene Söhne. Eine durch und durch sozialdemokratische Vita. Und deshalb ist Monika Buttgereit genau die Richtige, um als Beispiel zu dienen.

Es ist nicht einfach, zu erklären, um was es hier gehen soll. Um die Mühen, die es bereitet, der SPD ein neues Grundsatzprogramm zu geben, das erste seit der Wiedervereinigung. Und um die Frage, was ein Niederschreiben der Parteiideale bringen soll, wenn sich ohnehin niemand an sie hält.

„Bei vielen Anträgen“, sagt Monika Buttgereit in einem Kreuzberger Café, „geht es um wirklich Grundsätzliches.“ Die meisten Genossen wollen nicht vom Ziel des „demokratischen Sozialismus“ lassen. Große Teile der Bundespartei würden diese Formulierung aus Tagen des Klassenkampfs gern zu den Akten legen und durch „soziale Demokratie“ ersetzen. Da sperren sich die Berliner. Der hiesige Landesverband gilt unter Genossen als links, das mag derlei Traditionsbewusstsein erklären. Dass die zwei Wörter im Programm die Hartz-Reformen nicht verhindert haben, scheint sie nicht zu stören. In einer einstimmig von der Parteispitze abgesegneten Resolution schreiben die Berliner ihren Parteifreunden im Bund: Stets hätten die Programme der Sozialdemokratie „über die heute bestehenden gesellschaftlichen Strukturen und ökonomischen Verhältnisse“ hinausgewiesen. Zumindest im Grundsatzprogramm soll etwas Klassenkampf bleiben.

Aber die SPDler haben in den vergangenen Monaten auch handfestere Wünsche an die Adresse der Berliner Antragskommission geschickt, deren Chefin Monika Buttgereit ist. Sie und ihre 16 Mitarbeiter – je einer aus einem Bezirk, dazu eine Vorsitzende, ihr Vize und drei Beisitzer – haben hanebüchene Forderungen ausgesiebt, Doppelungen erkannt und gebündelt. Mal geht es einem Genossen nur um die Forderung, in einem Absatz das Wort „kräftiges“ Wachstum durch „qualitatives“ Wachstum zu ersetzen. Die meisten Anträge haben die Damen und Herren von der Antragskommission jedoch übersichtlich aufbereitet – und bieten es den Genossen in einer Art Hitliste zur Abstimmung dar.

Nach dem Renner „Demokratischer Sozialismus“ auf Platz eins folgt die Forderung nach einem „vorsorgenden Sozialstaat“, einem der Zauberworte von Parteichef Kurt Beck. Auf den Plätzen drei bis sieben stehen in der Genossengunst die Forderungen nach mehr Integrationsarbeit in den Großstädten, der Abschaffung der Wehrpflicht, einem gesetzlichen Mindestlohn, der Vereinbarung von wirtschaftlichem und ökologischem Fortschritt und nach mehr Ganztags- und Gemeinschaftsschulen.

Herausgekommen aus diesem Wust ist ein übersichtliches zweiseitiges Schreiben, damit die 16.200 Berliner Genossen nicht alle 730 Anträge lesen müssen. Aber auch, damit die Delegierten des Landesparteitags am Samstag dieses Schreiben als Resolution verabschieden können: als Aufforderung der Hauptstädter in Richtung Bundespartei, doch bitte ihre Wünsche zu berücksichtigen. Auf diesem Parteitag wird Buttgereit noch einmal ranmüssen. Als Chefin der Antragskommission wird sie auf dem Podium stehen und vor allem auf zweierlei vertrauen müssen: auf ihre Geduld und ihr gutes Gedächtnis.

Denn jeder Delegierte wird jede Formulierung infrage stellen können: Warum steht in der Resolution „kräftiges“ statt „qualitatives“? Warum fordert das Papier einen Mindestlohn, nennt aber keine konkrete Höhe? Dann wird der Lehrerin im „sozialen Brennpunkt“ ihre Erfahrung zugute kommen. Im schlimmsten Fall wird sie sich einen Tag lang immer wieder vor ihre Parteifreunde stellen müssen und beispielsweise erklären, warum der Begriff „sozial-ökologische Demokratie“ nicht den Weg in die Resolution gefunden hat.

Das klingt nicht nur mühsam, das ist es auch. Und das führt uns zur Anfangsfrage zurück: Warum tun sich Genossen so etwas an? Warum denken sie sich Grundwerte aus für eine Partei, die den Spagat fertig bringt, im Bund mit der CDU zu koalieren und in Berlin mit der Linkspartei? Warum all die Liebesmüh, wenn unklar ist, wie viel die Bundespartei am Ende ins Grundsatzprogramm einfließen lassen wird? Buttgereit überrascht die Frage. Sie ist im Landesvorstand der SPD, leitet die Arbeitsgemeinschaft Bildung, bis 2004 saß sie für die Berliner in der Grundsatzprogrammkommission der Bundespartei. Mit einer wegwerfenden Geste sagt sie über die Kaffeetasse hinweg: „Das ist ja eine sporadische Arbeit.“

Wer eine Erklärung für den Glauben der Genossen an die Kraft des geschriebenen Wortes sucht, findet sie eher bei Hannes Hönemann. Er ist Sprecher des Landesverbands, schon aus beruflichem Interesse muss er wissen, was die Partei bewegt. „Grundwerte sind immer wichtig, besonders bei der SPD.“ Die Partei möchte geliebt und verstanden werden. Daher braucht sie das Gefühl, dass auch traumatisierende Reformen wie die Agenda 2010 einen tieferen Sinn haben. Einen, der Sozialdemokraten einleuchtet. „Schröder konnte als Kanzler aufs Programm tippen und sagen: ‚Mir geht es doch auch um soziale Gerechtigkeit. Um unser System zu erhalten, müssen wir es umbauen.’ “

Kurz: Sozialdemokraten mögen unterschiedliche Wege gehen, und diese mögen verschlungen sein, aber sie eint dasselbe Ziel. Und das stand schon immer im Programm. Eine weltliche Bibel.

Das erklärt auch, warum das Programm so schwammig formuliert ist. Im sogenannten Bremer Entwurf, über den die Landesverbände derzeit beraten, steht unter der Überschrift „Wir gehen voran“: „Wir überlassen anderen das Beharren und Lamentieren, die Verleugnung von Realitäten, den Egoismus und den Populismus.“ Viel konkreter wird es nicht. Das ist kein Wunder, findet Hönemann: „Es muss ein Konsenspapier sein. Sonst findet es auf Parteitagen keine Mehrheit.“

Monika Buttgereit sieht das ähnlich. Süffisante Bemerkungen einflussreicher Genossen aus Charlottenburg-Wilmersdorf fechten sie nicht an, der Bremer Entwurf offenbare eine „bedauerlich geringe analytische Tiefe“. „Es ist immer leicht, zu kritisieren, was andere geschrieben haben“, sagt die in Kreuzberg lebende Buttgereit. Und sie gibt zu, hier und da knospten in den Änderungsanträgen „Blüten, was das Deutsche angeht“. Deshalb hat sie mitgeholfen, den Antrag der Charlottenburg-Wilmersdorfer abzublocken. Die wollten die Verabschiedung des neuen Grundsatzprogramms noch um ein, zwei Jahre verschieben. Da reichte es sogar der duldsamen Lehrerin. Denn das alte Programm war bereits überholt, als es verabschiedet wurde. Das war am 20. Dezember 1989, und der Ort war Berlin. Während draußen die Mauer fiel und der Kalte Krieg endete, schrieben die Sozis unter Punkt 1 noch: „Wir wollen Frieden.“ Parteisprecher Hönemann gibt zu: „Da wehen schon die 80er-Jahre durch.“ Das Bäumchen-wechsel-dich der Parteichefs – Schröder, Müntefering, Platzeck, Beck – verzögerte immer wieder die Arbeit am neuen Programm.

Wenn die Landesverbände ihre Vorschläge verabschiedet haben, werden sich Generalsekretär Hubertus Heil und Parteivize Andrea Nahles um die Neuformulierung kümmern. Ende Oktober soll das Programm in Hamburg den Segen eines Bundesparteitags erhalten. Nach drei Jahren Arbeit. Monika Buttgereit wird dabei sein, bis zum Schluss.

Ein langer Weg also vom Einzelantrag bis zum Grundsatzprogramm, und der Einzelne hat kaum eine Chance, sich darin mit eigenen Worten zu verewigen. Und was ist mit der Frage, warum sich Antragskommissionsleiter und Antragsschreiber diese Sisyphosarbeit antun? Buttgereit hat darauf bis heute keine Antwort. Vielleicht fragt sie auch nicht mehr.