Die Frau, die Carl Goerdeler verriet

■ 1944 denunzierte Eva Schwärzel einen der führenden Köpfe des 20. Juli / Kurz nach Kriegsende machte man ihr den Prozeß / Die Heldin wird zum Sündenbock

„Auf dem Sofa sitzt Dr. Goerdeler“, steht auf dem Zettel, den Helene Schwärzel ihren beiden Vorgesetzten – Zahlmeister der Lohnstelle eines NS-Luftwaffenstützpunktes – im August 1944 zuschiebt. Die nehmen die kleine, unscheinbare Frau wie immer nicht ernst. Doch Helene Schwärzel will recht behalten. Wenigstens einmal in ihrem bedeutungslosen Leben. Zusammen mit einer Kollegin bringt sie die beiden Männer dazu, die Sache zu prüfen. Carl Goerdeler hat inzwischen Verdacht geschöpft und flieht. Die beiden Zahlmeister verfolgen den 60jährigen und stellen ihn mit den Worten: Das Spiel ist aus, Dr. Goerdeler!“

Goerdeler war einer der führenden Köpfe der Widerstandsbewegung des 20. Juli. Die konservative Gruppe versuchte – spät, sehr spät – mit ihrem Attentat auf Hitler das Regime zu stürzen. Wie wir wissen, scheiterte der Versuch, und die Exponenten rund um den Grafen von Stauffenberg wurden hingerichtet. Mit Hilfe der Denunziation der Helene Schwärzel wird Carl Goerdeler gefaßt und von der Nazi-Justiz zum Tode verurteilt. Das Kopfgeld von einer Million Reichsmark bekommt Helene Schwärzel vom Führer persönlich überreicht.

Bereits zwei Jahre später, 1946, wird sie selbst angezeigt – wahrscheinlich empfand sie es umgekehrt als „Denunziation“. Von der „neuen Ordnung“ wird sie verhaftet und in einem der ersten Prozesse der Nachkriegszeit zu 15 Jahren, in einem Revisionsprozeß zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Die einstige Volksheldin wird über Nacht zum Volkssündenbock, zur Projektionsfläche sämtlicher Schuld deutschen Denunziantentums. Die Geschichte der Helene Schwärzel weist in all ihrer Dürftigkeit und Spießigkeit den Weg auf die noch schwärzeren deutschen Verhältnisse.

Anhand des Lebensweges dieser unscheinbaren Frau greift die Historikerin Inge Marßolek in ihrem Buch „Die Denunziantin“ ein Thema auf, das auch durch die jüngere deutsche Geschichte erneut Aktualität erlangt hat: der Verrat, die Denunziation. Für viele paßt dies auch ins Koordinatenbild des ewigen Gejammeres vom „Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen“, und schon ruft das Gedächtnis Bilder und Polarisierungen heutiger Tage auf: die Mauerschützenprozesse auf der einen Seite und daneben die Familie Honecker im chilenischen Eigenheim.

80 Prozent der „Erfolgsbilanzen“ der Gestapo gingen auf Anzeigen aus der Bevölkerung zurück, in der DDR wurde dies vom noch systematischeren Netz der Stasi erledigt. Das beantwortet dennoch nicht die Frage, warum das Urteil der Nachkriegsjustiz gerade Helene Schwärzel traf, warum sie bestraft wurde, während all die anderen nicht oder kaum belangt wurden. Vielleicht, weil sie sich in vielfacher Hinsicht gut als „Schau-Denunziantin“ und Sündenbock eignete, diese Helene Schwärzel. Es fängt schon bei ihrem Namen an – geradezu paradigmatisch. Daß das Kopfgeld auf Goerdeler so außergewöhnlich hoch lag, machte den Fall spektakulär und löste in der Bevölkerung Neid aus. Zudem hatte sie, die aus der Unterschicht Stammende, einen aus der bürgerlichen Oberschicht verraten. Und hinzu kommt, daß sie als Frau es gewagt hatte, einen Mann zu denunzieren. Immerhin hieß es in vielen damaligen Urteilen gegen Frauen, daß diese doch qua Geschlecht mehr Gefühl und Menschlichkeit aufbringen müßten!

Dieser Punkt wird von Marßolek in einem gesonderten Kapitel, „Justitia ist männlich“, beeindruckend abgehandelt. Und als Krönung ihrer „Eignung“ haben wir: die wenig attraktive, in keiner Weise „nette“ Frau, die Helene Schwärzel darstellte. So fiel es der Öffentlichkeit noch leichter, ja geradezu in den Schoß, sie als kaltblütige, eigennützige Hexe abzustempeln.

Der wesentliche Grund jedoch, warum der Fall Schwärzel so spektakulär wurde, ist in der Tatsache zu sehen, daß er vielen „Befreiten“ eine der ersten großen Möglichkeiten bot, sich von ihrer „Nazi- Schuld“ reinzuwaschen. Konservative Politiker der Weimarer Zeit, die keine Skrupel gehabt hatten, während der Herrschaft der Nationalsozialisten ihre Ämter weiterzuführen, schrieben sich nach dem Ende des Dritten Reiches den konservativen Widerstand auf ihre Fahnen. Ja, sie verteidigten ihn plötzlich sogar.

Vor allem jedoch brauchte die deutsche Justiz selbst eine Reinwaschung in Form eines Verfahrens, das trotz seiner neuen, demokratischen Legitimation durchaus exempelhafte Züge trug. Kein Berufsstand, so schreibt die Autorin Inge Marßolek, hätte sich schneller und bruchloser mit den Zielen und Machenschaften des Nationalsozialismus einverstanden erklärt, wie jener der Juristen. Mit dem Fall Schwärzel wollten die Männer des Rechts den Alliierten zeigen, wie entschlossen sie (auch) gegen Nazi-Verbrecher vorgehen konnten.

Tragisch an der Geschichte ist nur, daß die Schwärzel keine politische und in diesem Sinne keine Nazi-Verbrecherin war und daß die eigentlichen Täter ungeschoren davonkamen. Weder die beiden Zahlmeister noch die Richter und Staatsanwälte, die das Todesurteil gegen Carl Goerdeler aussprachen, wurden zur Rechenschaft gezogen. So erzählt die Autorin in ihrem Buch nicht nur die Geschichte der Helene Schwärzel, sondern beschreibt auch die frühe Nachkriegszeit sowie die darin sich entfaltende Geschichte der deutschen Justiz. Damit wird die „Denunziantin“ zugleich zu einem signifikanten Fall deutscher Vergangenheitsbewältigung, sofern diese so zu bezeichnen ist.

Einen tieferen Einblick in die Psyche der Helene Schwärzel gibt der parallel zum Buch auf den Markt gekommene Kinofilm gleichen Titels von Thomas Mitscherlich. Die Titelrolle wird auf erschütternd-einfühlsame Art von Katharina Thalbach gespielt. Martina Burandt

Inge Marßolek: „Die Denunziantin · Die Geschichte der Helene Schwärzel 1944–1947“. Edition Temmen, Bremen 1993, 24,90 Mark