Die Essenz des Weges zur Freiheit

THEATER Zum Marokko-Wochenende im Heimathafen Neukölln zeigt der marokkanische Regisseur und Dramatiker Jaouad Essounani zwei Stücke

„Mehr Respekt“ lautet das Schlüsselwort von Jaouad Essounani. Der Regisseur und Dramatiker aus Marokko zeigt zwei bemerkenswerte Stücke in der ebenso bemerkenswerten deutsch-arabischen Theaterreihe „Lila Risiko Schachmatt“ im Heimathafen Neukölln, die in der letzten Spielzeit begonnen hat und sich am Wochenende mit Marokko beschäftigen wird.

In der Hauptfigur seines Stücks „Hassan Leklichee“ bildet Essounani die letzten vier Jahrzehnte marokkanischer Geschichte parabelartig ab: Der als Kind sexuell missbrauchte Titelheld kommt aus einem familiären Umfeld, in dem sich Militärs, Prostituierte und Polisario-Aktivisten tummeln, wird durch merkwürdige Umstände zu einem Al-Qaida-Helden und landet am Ende in Guantánamo. Auch Hadda, Titelgestalt des zweiten Stücks, ist aus zahlreichen Partikeln erlittener sozialer wie sexueller Gewalt zusammengesetzt. Sie versucht, diesem Spannungsgefüge durch ein Selbstmordattentat zu entfliehen, und gerät dabei in weitere Konfliktsituationen.

Essounani sieht seine Arbeiten aber nicht als exzentrische Kampf-Stücke gegen alle denkbaren Gegner, den Westen, die Männerherrschaft, das Königtum oder den radikalen Islamismus, sondern eben als Plädoyer für „mehr Respekt“. „Ich kämpfe nicht, ich gebe nicht vor, ein Revolutionär zu sein. Aber ich bin auch nicht unterwürfig. Wenn mich etwas antreibt, dann ist es die Vorstellung von Respekt. Das ist für mich die Essenz des Weges hin zur Freiheit“, teilte Essounani in einem Mailinterview mit, das einem wegen schlechter Internetverbindung abgebrochenen Skype-Gespräch folgte.

Sein Aufruf zu „mehr Respekt“ tritt in Resonanz mit den Schlachtrufen der Demokratiebewegung in Marokko. Deren Hauptforderungen, „Mehr Würde, mehr Gerechtigkeit, mehr Demokratie“, haben sich seit 2011 als ernst zu nehmende Konkurrenz zu der althergebrachten Formel „Gott, König, Vaterland“ herauskristallisiert.

Essounani ist mit seinen beiden Stücken und einem Schauspielworkshop wichtigster Protagonist des Marokko-Wochenendes vom 4. bis 7. April, das den Blick auf ein Land richtet, dessen Demokratiebewegung sich „Bewegung 20. Februar“ nennt und wie andere aus einer Facebook-Initiative zorniger junger Menschen entstanden ist. Anders als in Ägypten oder Tunesien, wo sich die alten Machthaber massiv gegen jede Veränderung zur Wehr setzten, nahm der geschmeidigere – und selbst der jüngeren Generation angehörige – König Mohammed VI. dort den Ball der Veränderungswünsche auf und leitete eine Verfassungsänderung in die Wege. Ob sich dadurch die Machtverhältnisse und die Lebenssituation der Mehrheit änderten, dürfte Gegenstand der Podiumsdiskussion mit dem Titel „Nieder mit dem König! Es lebe der König?“ am 6. April werden. Neben Essounani nimmt an ihr auch der in Düsseldorf lebende Sozialpädagoge und Aktivist Samy Charchira teil. Charchira engagiert sich im interreligiösen Dialog. Er publizierte zur mittlerweile 50-jährigen marokkanischen Emigration nach Deutschland und referierte jüngst zu den Aktionen von Salafisten in Deutschland.

Essounanis Theaterarbeit stellt hochemotionale Tiefenbohrungen in die Sedimente der Gesellschaft an. Er bedient sich dabei eines sich an Artaud anlehnenden physischen Theaters. „Man vergisst zu oft, dass der Körper der Träger einer Idee oder eines Gefühls ist“, meint er. Eine Idee von diesem Theaterverständnis erhält man auch in den Inszenierungen von „Hadda“ und „Hassan Leklichee“. Sie wurden von der Berliner Regisseurin Lydia Ziemke besorgt, die Essounani im Rahmen eines Stipendiums entdeckte. TOM MUSTROPH

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