■ Die Christopher-Street-Day-Demonstrationen boomen überall. Ein politisches Motto fehlt ihnen. Brauchen Sie eins?: Nichts als Karneval?
Die Veranstalter erwarten rekordverdächtige Teilnehmerzahlen. In Berlin, am kommenden Wochenende, wird mit 40.000 Männern und Frauen gerechnet, in Kopenhagen zum „Europride“ sogar mit 100.000. Eine Woche später in der deutschen Homostadt Köln darf auch mit 80.000 Leuten gerechnet werden.
Nicht zufällig firmieren all diese Umzüge irgendwie unter der mageren Überschrift „Pride“ – zu deutsch: Stolz. In Köln steht die Demonstration unter dem schlichten Motto: „Flagge zeigen“. Kurz: Man zeigt sich, ohne etwas Besonderes zu wollen, geschweige denn gemeinsam zu fordern.
Daß ursprünglich einmal die öffentlichen Bekundungen von Schwulen und Lesben Ende Juni mit dem Aufstand von Tunten 1969 in New York gegen die notorischen Polizeirazzien in ihrem Lokal „Stonewall“ an der Christopher Street begonnen haben, ist längst vergessen. Christopher Street Day, kurz CSD, ist offenbar nur noch eine Chiffre, die nicht mehr bedeutet, als einmal im Jahr sich als schwul, lesbisch oder sonstwie anders als familiär-heterosexuell zu zeigen. Mit Militanz, mit Krawallen und Ausschreitungen haben die Homospaziergänge nichts zu tun.
Fragt sich nur, ob dies alles wirklich so unpolitisch ist wie es auf den ersten Blick ausschaut. Droht wirklich, wie der Berliner Schriftsteller Michael Sollorz mittelverzweifelt schreibt, eine Kommerzialisierung der Demos? Muß wirklich befürchtet werden, daß demnächst RTL und andere Markenlabels sich der Umzüge bedienen, um sich selbst zu preisen? Allein: Selbst wenn es so käme – was wäre daran so degoutant?. Natürlich wäre eine Anti-AKW-Demo mit Förderung einer Zigarettenfirma oder eines Automobilherstellers undenkbar – schon wegen diverser Überschneidungen in den Geschäftsinteressen.
Doch wir sprechen hier über Schwul- und Lesbischsein, das immer noch Grund zu Scham und moralischem Einknicken ist. Insofern sind auch Umzüge ohne Forderungen politisch per se: Im Lande kann gezeigt werden, daß Homosexualität nicht mehr versteckt werden muß.
Wenn RTL und andere Labels dabei hilfreich sind – um so besser. Daß es in einem solchen Fall zu karnevalesken Anreicherungen kommen würde, liegt auf der Hand: Es geht schließlich um Geld. Aber was sollte man gegen schrille Umzüge oder gegen PR-Effekte haben? Sind Demonstrationen nur mit mürrischen Mienen okay?
In der Tat markieren die diesjährigen Demonstrationen den Endpunkt einer Entwicklung. Während Anfang der achtziger Jahre kaum Homosexuelle zu bewegen waren, sich an den ersten größeren Umzügen zu beteiligen, hat sich dies gewandelt. Längst geben die Kinder der Babyboomer der sechziger Jahre in der schwulen Öffentlichkeit den Ton mit an – ihnen ist die Idee, sich verstecken zu sollen, zumindest suspekt. Unterstützt werden sie von einer liberalen Öffentlichkeit. Der Common sense lautet seit knapp zehn Jahren – Aids hat da tragischerweise im Sinne von Mitleid geholfen – ganz simpel: Homos sollen nicht diskriminiert werden.
An der rechtlichen Situation hat sich indes kaum etwas verändert – von der Tilgung des Paragraphen 175 abgesehen (doch diese gehörte zu den Pflichten des Einigungsvertrages mit der DDR, wo es keinen Sonderparagraphen gegen Schwule gab). Inzwischen hinkt die Bundesrepublik, was den Schutz von Schwulen und Lesben anbetrifft, fast hinter allen westeuropäischen Ländern her.
In den skandinavischen Ländern dürfen Schwule und Lesben nicht nur heiraten, sie genießen darüber hinaus umfassende Schutzrechte. Kündigungen am Arbeitsplatz wegen Homosexualität? Undenkbar. Zeitungen, die homosexuelle Kontaktanzeigen zurückweisen? Absurd. Selbst in Ungarn genießen seit Mai homosexuelle Partner die gleichen gesetzlichen Rechte wie heterosexuelle.
Nur in der Bundesrepublik ist alles noch wie am Ende der 60er. Der Gesetzgeber weigert sich, das Selbstverständliche und gesellschaftlich weithin Akzeptierte zu formulieren: Jede Benachteiligung wegen sexueller Orientierung ist nicht nur moralisch verpönt, sondern auch gesetzwidrig. Angehörige von Aidskranken können dessen Lebenspartner ein Besuchsrecht am Krankenbett verweigern. Nach wie vor ist es eine nervenzehrende Prozedur, den Partner erbrechtlich an die erste Stelle vor den Blutsverwandten zu setzen.
Statt dessen wird in Juristenkreisen unwidersprochen hingenommen, daß in einem der führenden Strafrechtskommentare zwei Juristen massive Kritik an der Idee der Gleichwertigkeit sexueller Orientierungen und dessen Ausdruck, der Streichung des Paragraphen 175, üben können; sexualpädagogische Schriften, die Homo- und Heterosexualität gleich behandeln und dafür die emotionale Potenzen der Liebenden fördern möchten, werden von katholischen Kreisen – erfolgreich – bemobbt; und die rot-grüne schleswig-holsteinischen Landesregierung steht unter Beschuß, weil sie ein Lesben- und Schwulenreferat eingerichtet hat.
Wenige Beispiele nur: Doch sie zeigen, daß Einschüchterungen noch existieren. Insofern bleibt nebenbei zu fragen, was eigentlich all die Jungdynamiker und Global- player in den etablierten Parteien wie Westerwelle&Co. machen, die stets so modern tun, schwul sind und doch kaum die Klappe aufmachen, wenn einmal wieder christsoziale Familienschützer angelegentlich einer offenen Sexualpolitik aufheulen. Wo ist der zivile Ungehorsam wie in den USA, wo eine Spitzensportlerin wie Martina Navratilova damit droht, ihren Wohnsitz von Aspen/Colorado in einen anderen US-Bundesstaat zu verlegen, wenn dieser seine antihomosexuellen Gesetze nicht wieder zurücknimmt? Wo bleibt die öffentliche Empörung, wenn wieder einmal die Stoibers behaupten, die Mehrheit zu vertreten?
Über die CSD-Demonstrationen hinaus müßte nun eine politische Strategie erarbeitet werden, um die Bundesrepublik an die rechtlichen und sozialen Standards seiner Nachbarn anzupassen. Sich einen netten Spaziergang zu gönnen, inmitten homosexueller Massen, ist aller Ehren wert – genug ist dies künftig nicht. Jan Feddersen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen