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Die Bilanz der Ampel Es geht voran

Das erste Jahr der Ampel-Regierung wurde als sehr dissonant wahrgenommen. Dabei wird gerade Geschichte gemacht.

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 06.12.2022 | Das erste Jahr der Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP („Ampel“) wurde medial stark wahrgenommen über die Angst der FDP vor ihrem politischen Aus. In geringerem Maße auch über die Sorgen der SPD wegen der grünen Dominanz bei der Bewältigung der Energiekrise und beim Umbau der Industriegesellschaft. Daraus folgte häufig dissonantes Auftreten in der politischen Öffentlichkeit. Das hat verdeckt, dass man dieses erste Jahr durchaus historisch nennen kann.

Die Ampel hat mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine im Frühjahr 2022 beherzt in den Krisenmodus umgeschaltet, Wirtschafts- und Klimaminister Habeck immer vorne weg. Trotz aller Versuchungen, die Krisen – koste es, was es wolle – mit der Gelddruckpresse zuzuschütten, nutzt die Ampel die Krisenbewältigung auch für den strukturellen Aufbruch in die nachfossile Wirtschaftswelt und die Festigung des Zusammenhalts der freiheitlichen Demokratien im Systemkampf mit den Autokratien.

Der Verzicht auf russisches Gas und ab Januar 2023 auch auf russisches Öl markieren den Einstieg in die Große Transformation aller gesellschaftlichen Strukturen ins nachfossile Zeitalter. 2030 und 2045 sind nun die gesetzlich festgeschriebenen Zielmarken auf dem Weg zu einer komplett nichtfossilen Energieversorgung von Wirtschaft und Gesellschaft in der Bundesrepublik und mit Verzögerungen wohl auch in der gesamten EU.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat mit dem Ausrufen einer „Zeitenwende“ und der damit verbundenen Bereitschaft, den Kampf für Freiheit und Souveränität der Ukraine auch mit militärischen Mitteln zu unterstützen, die Bundesrepublik noch fester in der Nato und an der Seite der westlichen Demokratien angedockt. Die Bundeswehr wird mit 100 Milliarden Euro in den nächsten Jahren zu einer einsatzbereiten und kampfstarken Armee für alle Aufgaben im Nato-Verbund ausgebaut.

Wirtschafts- und Klimaminister Habeck (Grüne) hat dafür gesorgt, dass die Gasspeicher zu 100 Prozent gefüllt sind. Ein Blackout ist in diesem Winter ausgeschlossen. Wo erforderlich, greift die Ampel zu staatlicher Industriepolitik, die sich auch vor Verstaatlichungen und direkter Förderung strategisch wesentlicher Industriezweige nicht scheut. So schnell wie noch nie bei vergleichbar großen Infrastrukturprojekten wurden die Flüssiggas-Terminals auf den Weg gebracht.

Die Große Transformation ist auf dem Weg

Die hier entstehenden Versorgungsstrukturen werden nach dem Auslaufen der Gasnutzung für grünen Wasserstoff genutzt werden können, der für den Erfolg der deutschen Wirtschaft der nächsten Jahrzehnte entscheidend sein wird. Wissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hat den Umbau des gesamten deutschen Gasnetzes zu einem grünen Wasserstoffnetz angeschoben. Um im Übergang Versorgungssicherheit zu gewährleisten, hat Habeck bei seinen Grünen das vorübergehende Wiederhochfahren der Kohlemeiler und den Weiterbetrieb der drei letzten Atomkraftwerke bis zum Frühjahr 2023 durchgesetzt. Mit einer Reihe von Energiewende-Gesetzen wird gleichzeitig der Ausbau von Windenergie, Fotovoltaik und Geothermie beschleunigt, wird der Umbau der Energie- und Wärmeversorgung im privaten Sektor durch zwingende Umbau- und Ausbauvorgaben vorangetrieben.

Großkonzerne und Mittelstand haben die politischen Vorgaben der Ampel längst in ihre kurz- und langfristigen Investitionsstrategien eingepreist. Nichtfossiles Produzieren ist zu einem Markenzeichen der Entwicklungsstrategien der deutschen Industrie geworden. Mit dem von Habeck bei den lange skeptischen Grünen durchgesetzten CETA-Freihandelsabkommen der EU mit Kanada ist der erste Baustein für weltweiten Freihandel innerhalb des demokratischen Westens beschlossen worden.

Die Ampel hat, zum großen Erstaunen der Naturschützer, bis 2026 vier Milliarden Euro für ein Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz bereitgestellt, das meint Ökosysteme wie Moore, die Kohlendioxid speichern können.

Als Folgen aller dieser potentiell weitreichenden Entscheidungen sind allerdings Zumutungen und Belastungen im Alltagsleben der Leute nicht zu vermeiden. Die Ampel hat Hilfsprogramme im Umfang von über 300 Milliarden Euro bereitgestellt, um diese Belastungen abzumildern. Die Erhöhung des Mindestlohns und das Bürgergeld sind, in diesen Zusammenhängen verstanden, keine neuen Sozialleistungen auf einer ewigen Ungerechtigkeitsskala: Sie sind Hilfestellungen für Betroffene in der Großen Transformation. Viele Bürger scheinen verstanden zu haben, dass das Alltagsleben schwieriger werden wird, und scheinen bereit zu sein, Zumutungen mitzutragen.

Bei aller Kritik hat auch die FDP den historischen Auftrag der Ampel angenommen. Anders ist ihr faktischer Verzicht auf die Schuldenbremse und die Aufstockung der Kreditermächtigungen für die Bundesregierung auf über eine halbe Billion Euro nicht einzuordnen.

Die gute Nachricht am Ende eines schlechten Jahres

Dass diese Koalition sich zum Motor der Transformation entwickeln könnte, war zu Beginn ihrer Regierungszeit nun wirklich nicht zu erwarten. Heute kann festgestellt werden, dass sie den Druck der Verhältnisse dazu nutzt, ein tragfähiges strategisches Zukunftskonzept zu entwickeln und an seiner Umsetzung zu arbeiten. Nicht immer einstimmig, aber in der Summe erstaunlich konsequent.

Zwei historische Großaufgaben allerdings nimmt diese Bundesregierung nicht ernst. Zum einen ignoriert sie den demographischen Wandel. Gesundheitssystem, Pflege, Kindergärten, Schulen und Universitäten, Wohnen, Städtebau und Mobilität geraten in der Großen Transformation genauso unter Stress wie die Energieversorgung. Bisher werden die Probleme in diesen Sektoren immer nur mit Geld zugeschmissen. Jetzt aber sind vor allem strukturelle Reformen aller Sozialsysteme zwingend. Sonst kommt es zu massiven Störungen in der Versorgung,

Zum anderen werden die Herausforderungen der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz nicht ernst genommen. Statt diese zentralen Technologien des Jahrhunderts durch gesetzliche Regulierung für die Große Transformation einzuhegen und zu nutzen, schaut die Ampel zu, wie die privaten Tech-Konzerne den Staat systemisch aushöhlen und die Gesellschaft im Sinne ihrer Kapitalinteressen ausrichten und auch spalten helfen.

Eine Sache ist noch wichtig, nämlich der Versuchung zu widerstehen, Katastrophismus mittels historischer Analogien zu beschwören: 2022 ist nicht 1922. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss. Vor hundert Jahren haben Deutschnationale und Konservative den Niedergang der Weimarer Republik als Antwort auf die große Nachkriegskrise auf den Weg gebracht. In diesem Jahr aber hat die Ampel die Chance erarbeitet, jeden Versuch auszubremsen, die Große Transformation ins nachfossile Menschenzeitalter mit Lügen, falschen Versprechungen, Diktaturen und mörderischen Kriegen aufzuhalten. Das ist die gute Nachricht am Ende eines schlechten Jahres: Die Große Transformation ist auf dem Weg.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.