: Die Bezirksfürsten im Aufwind
■ Sie haben die „Wende“ in der SED gegen den zentralen Parteiapparat durchgesetzt
Mit dem Abtritt der alten Garde hat sich das Gewicht der einzelnen Funktionsgruppen in der SED-Spitze beträchtlich verschoben. Vertreten sind im Politbüro vor allem der zentrale Parteiapparat, die Spitzen des Staates und die Bezirksfürsten der Partei. Ausgelöst wurde die politische Umwälzung gewiß durch Ausreiser und Demonstranten, doch dieser gesellschaftliche Druck mußte erst in den Machtapparat hinein vermittelt werden.
Das entscheidende Datum war dafür die Sitzung des Politbüros am 11. Oktober, an der die Ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitungen teilnahmen. Sie haben die in einer Scheinwelt lebende zentrale Parteiführung auf den Boden der Realität zurückgeholt und die Einleitung der „Wende“ durchgesetzt. Und sie sind jetzt die einzige Funktionsgruppe in der Führung, die den personellen Wechsel fast unbeschadet überstanden hat. Boehme (Halle), Eberlein (Magdeburg), Müller (Erfurt), Lorenz (Karl-Marx-Stadt), Schabowski (Berlin) und Walde (Cottbus) sind weiterhin im Politbüro, das bisher insgesamt 21 Mitglieder hatte. Gefeuert wurden bisher nur drei Bezirkssekretäre, die den Weg ins Politbüro auch vorher nicht geschafft hatten: Albrecht (Suhl), Ziegenhahn (Gera) und Ziegner (Schwerin).
Dagegen sind von den zehn stimmberechtigten Repräsentanten des zentralen Parteiapparates bisher sechs gefeuert worden, nur vier haben politisch überlebt (Dohlus, Jarowinsky, Krenz und Krolikowski). Von den sieben Vertretern der Staatsführung sind zwei bereits abgelöst (Mielke und Neumann), zweien (Stoph und Sinnermann) und vielleicht auch noch einem Dritten (Verteidigungsminister Keßler) steht das unmittelbar bevor. Nur zwei andere (Kleiber und Schürer) stehen bisher nicht zur Disposition.
Bei dieser Verschiebung der Gewichte zugunsten der regionalen Kader wird es wahrscheinlich nicht auf Dauer bleiben, doch werden sie in den nächsten Monaten (über einen längeren Zeitraum wagt man nicht mehr zu spekulieren) ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Dem Realismus der SED -Politik kann das nur gut tun.
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