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Die Betroffenen der Bologna-Reform"Behandelt Studenten nicht wie Kinder!"

Ein Streitgespräch mit der ehemaligen Bildungsministerin Edelgard Bulmahn, Philosophie-Studentin Leva Kóchs und dem Leiter des Instituts für Komparatistik der FU Berlin Remigius Bunia.

"Die Politik müsste anerkennen, dass Studium und Forschung vom Mut zum Irrtum leben." Bild: dpa

taz: Zum zweiten Mal in diesem Jahr protestieren Studierende für bessere Studienbedingungen und gegen die Folgen des Bologna-Prozesses. Was muss sich an den Unis ändern?

Leva Kóchs: Wir brauchen das Studium in erster Linie zur Orientierung und nicht zur schnellen Berufsvorbereitung. Das bedeutet: größere Flexibilität in den Modulen, mehr Dozentenstellen, eine geringere Arbeitsbelastung, die Aufhebung der Trennung zwischen Bachelor of Arts und Bachelor of Science, sodass auch interdisziplinäres Brückenschlagen möglich ist.

Remigius Bunia: Aus der Sicht der Hochschulen muss der Bürokratieaufwand sinken. Unsere eigentliche Aufgabe ist es, Wissenschaft zu betreiben und zu vermitteln. Die Politik hat die Hochschulen bei der Bologna-Reform viel zu sehr eingeengt.

Bild: dpa
Im Interview: 

Edelgard Bulmahn, 58, SPD, war von 1998 bis 2005 Bundesbildungsministerin. (Foto)

Remigius Bunia, 39, leitet das Institut für Komparatistik an der FU Berlin.

Leva Kóchs, 23, studiert Philosophie an der HU Berlin.

Proteste gehen weiter

Die Studierenden halten weiter Hörsäle an über 100 Hochschulen besetzt, Proteste werden fortgesetzt:

Alternative Bildungsgipfel: Für den 4. und 5. Dezember laden Studierende der Ruhr Universität Bochum zur "Zukunftswerkstatt" ein, um Ideen für eine bessere Bildung zu diskutieren. Vom 11. bis 13. Dezember will man in Regensburg Ideen für die Schulen und Hochschulen von morgen sammeln.

Demonstration und Blockade: Ein Bündnis aus Initiativen, Gewerkschaften, Schülern und Studierenden ruft dazu auf, die Sitzung der Kultusminister am 10. Dezember in Bonn zu blockieren.

Edelgard Bulmahn: Die Bildungsminister hatten den Bologna-Prozess sehr flexibel angelegt. Die Ziele, 40 bis 50 Prozent eines Jahrgangs zu einem Hochschulstudium zu führen, die Durchlässigkeit zwischen den Hochschulen, zwischen Hochschule und Berufswelt zu erhöhen, oder die Anerkennung von Studienleistungen über Landesgrenzen hinweg halte ich für richtig. Die Umsetzung ist aber nicht immer gut gelungen. Wir brauchen deshalb eine Reform der Reform.

Die Wut der Studierenden geht auch gegen die Universitäten. Welchen Teil der Verantwortung tragen die Hochschulen?

Bunia: Manche Institute haben sich die praktischen Folgen der Reform möglicherweise erst klargemacht, als die Studienpläne schon feststanden. Mancherorts, etwa bei der Mathematik in Bonn, ist es aber gelungen, gute Studiengänge zu entwickeln. Bei vielen Studiengängen hingegen wird nur noch geprüft, geprüft, geprüft. Es ist da wenig Platz für freie Neugierde.

Kóchs: Formal wurde Bologna vielleicht realisiert, inhaltlich jedoch nicht. Zu den Modulen, die wir belegen müssen, werden oft nur sehr wenige oder in manchem Semester auch keine passenden Lehrveranstaltungen angeboten; entweder man hat die Zeit und das Geld, zwei Semester zu warten, oder man belegt den Kurs trotzdem. Viele wählen deshalb nicht nach Interesse, sondern danach, was einigermaßen ins Programm passt.

Ist die Arbeitsbelastung wirklich so schlimm, wie die Studierenden immer kritisieren?

Kóchs: Der Bachelor besteht aus 180 Studienpunkten. Pro Studienpunkt werden 30 Stunden Arbeit angesetzt. Nach dieser Rechnung haben wir drei Jahre lang eine 60-Stunden-Woche, dazu eine hohe Prüfungsbelastung. Wie soll man da ins Ausland gehen, Praktika belegen, in der Regelstudienzeit bleiben, jobben und im Studium entdeckte Interessen ernsthaft vertiefen?

Bulmahn: Starre Semesterzahlbeschränkungen, Übergangsquoten und überbordende Prüfungen, all das ist in den Bologna-Vereinbarungen nicht enthalten. In den skandinavischen Ländern gibt es diese Probleme nicht. Gerade deshalb würde ich mir von den Studierenden wünschen, dass sie keine Pauschalkritik üben, sondern gute, gelungene Studiengänge publik machen. Die Verbesserung der Betreuungsquote, eine hohe Qualität der Lehre - das sind die Ziele von Bologna.

Wenn die Hochschulen die Reform so schlecht umsetzen, muss dann die Politik sich wieder stärker einmischen?

Bunia: Auf keinen Fall. Damit würde man das Universitätssystem innerhalb von zwanzig Jahren ruinieren.

Bulmahn: Bund und Länder müssen die Hochschulen besser unterstützen. Das Wichtigste ist eine bessere Personalausstattung der Hochschulen. Das kostet Geld. Ich habe mich sehr geärgert, als die CDU-regierten Länder 2004 den von mir vorgeschlagenen Pakt für Hochschulen zur Unterstützung des Bologna-Prozesses abgeblockt haben. Einige der Probleme wären dadurch vermieden worden

Wenn die Hochschulen so viel Freiheit bei der Gestaltung der Studienprogramme hatten, wo ist dann das Problem?

Bunia: Die Hochschulen wurden von der Politik alleingelassen! Es stimmt, dass der Bund die Reformen vergleichsweise flexibel angegangen ist. Das Problem ist, dass hinter Bologna ein Geist stand, der Bürokratisierung geschaffen hat.

Bulmahn: Das ist doch Unsinn! Bei Ihrer Analyse müsste es die Probleme zum Beispiel auch in Schweden geben. Das ist aber nicht der Fall. Der Geist stand nicht über Bologna, sondern über einigen Akkreditierungsagenturen, Hochschulleitungen und Landesministerien.

Bunia: Mit der Bologna-Reform wurden die Professoren mit Bürokratie überschüttet. Nehmen Sie das Akkreditierungsverfahren. Die Hochschulen müssen sich damit neue Studiengänge genehmigen lassen. Diese Akkreditierungsagenturen interessiert vor allem, ob Formalitäten erfüllt werden. Da geht es um eine bestimmte Rhetorik. Und Professoren müssen sich mit juristischen Klauseln beschäftigen, die nichts mit Wissenschaft zu tun haben. Das ist eine Zumutung!

Bulmahn: Hier müssen die Länder und die Akkreditierungsagenturen dringend umsteuern. Die bürokratischen Vorgaben sind keine Vorgaben der europäischen Bildungsminister. Es ging um Vergleichbarkeit, bessere Studierbarkeit und größeren Studienerfolg, nicht um minutiöse bürokratische Kontrolle.

Kóchs: Warum haben Sie in der von Ihnen angeregten Exzellenzinitiative einseitig auf Forschung gesetzt? Für den Zukunftsstandort Deutschland ist die Lehre nicht weniger wichtig

Bulmahn: Mein erster Vorschlag beinhaltete beides, Forschung und Lehre. Die Länder waren aber dazu nicht bereit. Die CDU-regierten Länder haben von Anfang an Bologna wie auch die Exzellenzinitiative als Modellfall genommen, um den Bund ganz aus der Lehre herauszudrängen.

Frau Bulmahn, vor zehn Jahren haben sie den Bologna-Prozess initiiert. Haben Sie seither mal gedacht: "Hätten wir doch nie damit angefangen, die Deutschen kriegen das einfach nicht hin mit den Reformen"?

Bulmahn: Ich glaube nicht, dass wir in Deutschland strukturell oder genetisch nicht in der Lage sind, neue Herausforderungen zu meistern. Wir können den Bologna-Prozess bewältigen - wenn wir es wollen. Womit wir wieder beim Thema Geld wären.

Laut OECD fehlen 36 Milliarden jährlich, um nur auf das durchschnittliche Finanzierungsniveau der anderen Mitgliedsstaaten zu kommen.

Bunia: Die Finanzfrage ist tatsächlich das Ausgangsproblem für viele weitere Probleme. An den Universitäten fehlen Lehrkräfte. Mit mehr Lehrkräften gäbe es ein größeres Kursangebot. So würden sich auch für die Studierenden viele Probleme lösen.

Kóchs: Wir haben das Gefühl, dass sich die Politik nicht für Bildung interessiert. Ob es jetzt an der Hochschule oder an der Reform selbst liegt, ist irrelevant.

Mehr Geld für Bildung dürfte es in der Krise nicht geben.

Bulmahn: Da widerspreche ich! Mit Börsenumsatz- und Vermögensteuer und einem Verzicht auf Steuersenkungen könnte man 20 Milliarden Euro mobilisieren, die wir zusätzlich brauchen. Wenn aber die Rechtskoalition Steuersenkungen um jeden Preis durchsetzen will, wird Bildung in der Tat beerdigt.

Bunia: Ich fürchte, dass es am Ende wieder nur Reförmchen geben wird, die die Lehrsituation nicht verbessern werden.

Bulmahn: Deshalb muss Schluss sein mit der Legende, dass niedrigere Steuern unsere Lebensverhältnisse verbessern.

Was muss unter den gegebenen Bedingungen als Erstes geändert werden?

Kóchs: Die gegebenen Bedingungen sind, das das Geld fehlt, ohne das die am Anfang erwähnten Forderungen auch nicht erfüllt werden können. Ein kostengünstiger Anfang wäre: Behandelt Studenten nicht wie Kinder! Das heißt: Abschaffung von Anwesenheitslisten - als ob körperliche Präsenz auch die geistige garantieren würde. Ebenso die Zwangsberatung mit Androhung der Exmatrikulation, wenn man nach dem zweiten Semester nicht die erforderlichen Studienpunkte erbracht hat, und "Funktionsstörungsatteste", in denen der Arzt bei Verpassen einer Klausur das Krankheitsbild in Worten statt einer Nummer offenlegen muss, sowie die enge Moduleinteilung und die Kürze der Regelstudienzeit. Wir studieren, weil wir uns selbstständig Wissen aneignen wollen, und dieses Vertrauen muss uns entgegengebracht werden.

Bulmahn: Den Worten müssen Taten folgen. Die Hochschulfinanzierung muss kräftig steigen. Hochschulen und Länder müssen die Studiengänge entschlacken und auf bürokratische Detailregelungen verzichten.

Bunia: Die Politik müsste anerkennen, dass Studium und Forschung vom Mut zum Irrtum leben. Im Moment darf sich weder ein Studierender in seiner Modulwahl irren noch ein Hochschullehrer in der Planung eines Moduls. Das ist ein Fehler: Lernende Organismen leben davon, sich irren zu dürfen. Und Revisionen brauchen Zeit und Geld

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5 Kommentare

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  • N
    nachgerechnet

    Auf eine 60-Stunden-Woche kommt man aber nur, wenn man die Arbeitsbelastung von 60 Leistungspunkten pro Semester (enspricht 1800 Stunden Arbeit)auf die 15 Wochen aufteilt, in denen der Unibetrieb läuft. das hieße, dass der Student die restlichen 22 Wochen des Jahres komplett frei hätte. Teilt man die Arbeitsbelastung dagegen auf 52 Wochen pro Jahr auf, kommt man auf etwa 35 Stunden Arbeit die Woche. Da in den Zeitaufwand theoretisch schon sämtliche Studienleistungen wie Vor- und Nachbereitung von Veranstaltungen, Prüfungsvorbereitung und natürlich Zeit für Hausarbeiten und ähnliches eingerechnet sein sollten, kann die Belastung für Studierende gar nicht so hoch sein. Die Frage ist viel eher, ob diejenigen, die für Module und Veranstaltungen Leistungspunkte vergeben, sich überhaupt die Arbeit machen, den tatsächlichen Zeitaufwand abzuschätzen.

  • A
    andyconstr

    Studenten nicht als Bildungsmaschinen zu behandeln wäre gut.Denn Maschinen sind nicht besonders kreativ.Mit Stress und Druck hat man viele negative Erscheinungen.Deswegen wäre mehr Zeit fürs Studium besser und die Förderung des Interesses nützlicher als die reine Abarbeitung von Lehrpunkten.Denn gerade beim Interesse setzen sich die menschlichen Potentiale wie Kreativität, Motivation und Innovation frei.Vieleicht sollte man auch was gegen den Wissensegoismus tuen, denn der fördert nicht gerade den Gemeinsinn, denn wenn alle mehr profitieren, profitiert auch der einzelne mehr.Mit Studenten als Standartwissensfunktion werden wir in Deutschland nur Durchschnitt und ob wir dann weiter Hochtechnologieland bleiben ist fraglich.Aus der Mikroprozessortechnologie sind wir jedendfalls schon rausgefallen.Und gerade High-Tech schafft noch gute Arbeitsplätze, vor allem in der Konstruktion.

  • N
    Nigredo

    Eigentlich wird doch von allen nur an den Details herumgemakelt, dabei geht es um etwas ganz anderes, dass sich aber niemand wirklich anzusprechen traut.

     

    Der Bachelor, wie es ihn heute gibt, ist der "Untergang des Abendlandes", wie er so oft beschworen aber noch nie passiert ist.

    Kultur, Bildung, alles was den Menschen ausmacht, ist der "Umweg" als Prinzip. Es geht nicht bloß darum, den Irrtum zu erlauben, es geht darum, den Umweg zum Prinzip zu machen, den Studierenden wie den Forscher seinen eigenen Weg finden zu lassen, eigenverantwortlich und ohne Bevormundung.

     

    Die Universität als verlängerter Arm der Eugenik, einer pervertierten Form der "Veredelung des Menschen durch Bildung", nämlich der Züchtung von Humankapital für den Arbeitsmarkt, ist zum Scheitern verurteilt, zu einem hohen gesellschaftlichen Preis; die Universität ist ein eigenenr Kosmos in den man sich integriert, um gerade hierdurch zu gewinnen, das Bachelorstudium verhindert das aber durch kontinuierlichen Druck auf die Studierenden.

     

    Ein echter europäischer Bildungsprogress muss darum genau andersherum funktionieren: Radikale Abschaffung von Studienordnungen, Anbieten von Vorlesungen und Seminaren ohne Anwesenheitspflichten, eine einzelne finale Abschlussprüfung, die sowohl die Fokussierung auf ein Themengebiet erlaubt, als auch allgemeines Grundwissen abverlangt. Wenn der Student in letzter Instanz selbstständig entscheidet, was er braucht und was er will, dann behindert es ihn auch nicht, ein Semester in London zu lernen, ein anderes Wien, ein drittes in Paris.

    Wer nebenbei jobben muss, kann sich mehr Zeit lassen, wer schnell in den Job will oder muss und seinen Stoff schnell genug gelernt hat (dabei spielt es letztlich gar keine so große Rolle ob allein (und unter Anleitung der Profesoren) oder in den angebotenen Seminaren), kann schon nach wenigen Semestern die Uni wieder verlassen.

     

    Gleichzeitig bekämen wir so sehr viel besser ausgebildete Studienabgänger, die gerade in den von ihnen favorisierten Themengebieten viel stärker sind als ein derzeitiger Bachelor.

     

    Eine freie Bildung mit genug finanziellen Mitteln wäre hierfür natürlich Grundvorraussetzung, auch wenn die Seminargrößen sich hierdurch von ganz allein stark verringern würden, Veranstaltungen würden nicht mehr von uninteressierten Zwangsteilnehmern verstopft, auch für das allgemeine Klima in den Veranstaltungen wäre das mehr als wünschenswert.

     

    Leider verträgt sich dieses Konzept nicht mit der fortschreitenden (und offenbar gewollten) Unterwerfung von Kultur, Bildung und Kunst unter kapitalistische Sachzwänge.

  • F
    Fehlerteufel

    Schöner Artikel, aber wie kommt man darauf, einen urdeutschen Namen wie "Kochs" mit accent aigu zu schreiben??? Da fehlt das Sprachgefühl ja völlig oder das Rechtschreibprogramm ist Amok gelaufen.

  • SM
    susi mayer