■ Die Berliner pilgern seit Samstag in Scharen zum Reichstag. Die Verhüllungsaktion der Christos, die, wenn das Wetter mitspielt, heute abend beendet sein wird, ist ein schönes Freiluftspektakel.: Verpackt am 20. 6. 95
Die Berliner pilgern seit Samstag in Scharen zum Reichstag. Die Verhüllungsaktion der Christos, die, wenn das Wetter mitspielt, heute abend beendet sein wird, ist ein schönes Freiluftspektakel.
Verpackt am 20. 6. 95
Sie sind jung, und sie kommen aus Spanien, Frankreich und Polen. Seit Samstag morgen bereits stehen sich einige tausend TouristInnen nebst Originalbevölkerung vor dem Berliner Reichstag die Beine in den Bauch, warten darauf, daß das Ding endlich verhüllt wird. Viel sehen können sie nicht, das Gebäude ist weiträumig mit gelbem Baugitter abgeschirmt. Davor drängen sich Kameramänner und Journalisten durch die schmalen Gänge, die zwischen dem gesperrten Straßenzug und den Grünausläufern des Tiergartens einen geeigneten Standort für ihr Videostativ oder das Teleobjektiv ihres Fotoapparats suchen. Also sind wenigstens die kleiner gewachsenen Leute auf eine Wiese vor dem Westportal ausgewichen, wo sonst Berliner Freizeitkicker Fußball spielen.
Dort hocken sie neben ihrem Rucksack voller Butterbrote, Regenkleidung und Feldstecher und warten. Irgendwann watschelt Spiegel-Kolumnist Hendryk M. Broder mit seiner Familie vorbei, blickt kritisch über das belagerte Feld und lächelt dann zufrieden den Monteuren auf dem Dach zu. Auch Wolfgang Thierse (SPD), der dem zögernden Bonner Parlament damals „Spießbürgerlichkeit“ vorgeworfen hatte, schaut mit seiner Frau vorbei und schlendert später Unter den Linden entlang. Vor dem Zaun hat sich eine schrullige Mamsell im silbernen Glitterkleid aufgebaut und quatscht nun eindringlich auf die versammelte Fotografenschaft ein, daß man sie doch einmal knipsen möge, denn „ick bin ooch schön“. Die Reichstagsverhüllung ist schon am ersten Tag ohne viel Zutun des Christo-Trusts eine Demonstration echt Berliner Lokallebens geworden.
Am Samstag scheint die Sonne, den nächsten Tag regnet es, und am Sonntag abend trotten die Angereisten zurück in ihre Jugendhotels und Pensionen, die an diesem Wochenende nahezu restlos ausgebucht sind. Leider ist nur sehr wenig passiert. Nachdem der Vortag mit der Innenhofverhüllung vorüberzog, mußten die etwa hundert professionellen Kletterer und Monteure am zweiten Einsatznachmittag die Arbeiten abbrechen, weil der Wind mit Stärke 4,5 übers Dach tobte. Es wird morgen besser werden, wenigstens das Wetter, muntert sie ein Reporter von Radio r.s.2 auf. Und es wirkt: Morgen komme sie wieder, sagt eine etwas enttäuschte Studentin aus Dijon, der die Stadt sonst sehr gut gefällt, besonders die Kneipen. Auch ihr Begleiter freut sich schon auf den nächsten Tag, „wenn da wirklich der Stoff zu sehen ist“. Ihn erinnert die Verhüllung an surrealistische Kunst, so wie die von Dali oder die von Miró gestalteten Plätze in Barcelona.
Christo, seine Frau Jeanne- Claude sowie insgesamt 90 Kletterer und 120 Installateure, die in Doppelschichten arbeiten, tun sich schwer, die Aktion ins Ziel zu bringen. Was 24 Jahre geplant, verworfen, petitiert, bestritten und zuletzt vom Bundestag nach einer harten Debatte um nationale Symbole und internationale Signale mit 292 Ja- gegenüber 223 Neinstimmen beschlossen wurde, kann auch noch einen Tag länger Weile haben. Als Deadline hat man sich den Mittwoch gesetzt, das Timing ist großzügig kalkuliert. Vermutlich werden schon am Dienstag die letzten Türme und die beiden Portale vollständig verkleidet sein.
Die Christos machen trotzdem keine Pause. Das Ehepaar scheint an allen Fronten zu agieren. Mal wirbelt es auf dem Dach, dann helfen die beiden den Bodentruppen bei der Verankerung der heruntergelassenen Stoffbahnen oder zupfen aus einem Fenster im zweiten Stock die verhedderten königsblauen Seile zurecht, die das Gewebe von jedem Stockwerk aus spannen. Abends sitzen sie auf Sat.1 zwischen Helge Schneider und Herrn Böhme bei „Talk im Turm“ und müssen sich mit dem Verhüllungsmiesmacher Heinrich Lummer von der CDU abplagen, der die ganze Aktion überflüssig findet. Der ehemalige Innensenator, der in den achtziger Jahren mit Polizeigewalt besetzte Häuser räumen ließ, kann sich nicht mit der Idee anfreunden, daß das Kunstwerk Nachdenken über die Bedeutung des Reichstages auslösen könne: „Alles wird relativiert, minimalisiert und zum Teil in den Dreck gezogen“, erbost sich der Politiker. Und Helge Schneider mag den bedrängten Christos auch nicht recht zur Seite stehen: Er findet Kastanienmännchen viel schöner als große Kunst.
Die Stadt Berlin aber wollte es so. Für die Tourismuswerbung ist ein verhüllter Reichstag die beste Möglichkeit, als Metropole international wieder positiv ins Gespräch zu kommen, nachdem zuletzt nur über gekürzte Kulturtöpfe berichtet wurde. Christo kostet nichts, bringt Stoff wie Arbeitskräfte selbst mit und macht am Ende sogar sauber. Das verspricht einen noch reibungsloseren Ablauf als bei der Love Parade. Aber auch als Medienereignis ist die Verhüllung den Ravern am Ku'damm weit voraus, läßt sie sich doch vor- und nachbereiten. Statt zwei Stunden lang live tanzenden Fußvolks kann man täglich berichten, dokumentieren, analysieren, auch dann noch, wenn am 6. Juli abgebaut wird.
Außerdem gibt es Archive voller Kupferstiche, brennender Reichstagsfassaden, Hitler-Bilder, Trümmerfrauen – alles möchte sich hier mit allem verbinden. Selbst wenn das Wetter dem Treiben einen Streich spielt, bleiben die SFB-Teams auf ihren Posten, „dann filmen wir eben die Besuchermassen oder das Panorama auf der anderen Seite der Spree“. Sogar die S-Bahn setzt auf Christo und hat eine Extratour in einem historischen Zug von 1928 organisiert. Clou der Fahrt: Die Bahn hält mitten auf der Strecke in Reichstagsnähe, so daß man vom Fenster aus fotografieren kann. Danach geht es leider über Umwege nach Schöneweide und erst nach eineinhalb Stunden wieder zurück.
Die Frage, ob es Kunst ist, will indes niemand recht beantworten. Und auch Christo hält sich das Türchen der allgemeinen Einbildungskraft offen: „Wir können die ganze Bedeutung des Projekts nicht beurteilen“, sagt er im Interview. Was bleibt, sind also 100.000 Quadratmeter silbergrau schimmernde Faser, die den Reichstag so ein bißchen wie die verhängten Vogelkäfige auf den Gemälden von Magritte aussehen lassen. Surrealistisch eben, wie ein Stück angestaubte Moderne, dafür aber im großen Stil weich gezeichnet und dick aufgetragen. Harald Fricke, Berlin
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