■ Die Berliner Lichterkette: Die Botschaft des Festes – ernstgenommen
Es ist ganz und gar nicht selbstverständlich, daß nach München, Hamburg, Lindau, dem Ruhrgebiet, Hannover, Frankfurt und vielen anderen Städten sich auch in Berlin eine Lichterkette quer durch die Stadt zog. 250.000 Menschen verließen am ersten Weihnachtsfeiertag ihre bequemen Sitz- und Liegemöbel, überantworteten die Gans im Ofen einem ungewissen Schicksal und gingen bei klirrender Kälte auf die Straße. Zeitraubende Anfahrtswege waren zu bewältigen, denn die Verkehrsbetriebe hatten keine Sonderzüge eingesetzt, und die Lichtspur konnte sich nicht aus dem Reservoir ermatteter innerstädtischer Weihnachtseinkäufer speisen. Eine viertel Million Menschen waren trotzdem gekommen, um, ganz sanft, ganz weihnachtlich, zu zeigen, wem in dieser Stadt die Straße gehört. Das macht Mut für morgen.
Die Lichterkette in Berlin war die erste, für deren Zustandekommen wirkliche Hindernisse beiseite geräumt werden mußten. Der Gegenwind war kräftig. Das politische Klima in der Noch-nicht-Hauptstadt ist härter und unsentimentaler als im Westen der Republik. Die zwei auflagenstärksten Abonnementszeitungen und der größte Privatsender von Westberlin fürchteten ein Fiasko. Sie kamen nicht über die Wirkung der weltweit ausgestrahlten Fernsehbilder von der Demonstration am 8. November hinweg, die einen von Eiwürfen beschmutzten Bundespräsidenten zeigten. Berliner Prestigesucht führte dazu, daß das lächerliche Wort von der „Nachahmung“ die Runde machte. Vielen schien auch der Hinweis angebracht, daß Weihnachten ein Fest der Familie sei und kein Anlaß für ein Städtemarathon. Noch am 24. Dezember riefen die Zeitungen für die liberale Mittelschicht die Bürger der Stadt auf, mit „Lichtern in den Fenstern“ ein Zeichen für Humanität und Toleranz zu setzen. Und fast versteckt blieb der Hinweis, daß es „daneben auch eine von der taz initiierte“ Lichterkette geben soll. In die Zwickmühle gerieten durch diese fast zeitgleich geplanten Aktionen die Kirchenführung, die Verbände und der Gewerkschaftsbund. Ihnen blieb nur Ausgewogenheit. Jedes Zeichen gegen Ausländerhaß sei zu begrüßen.
Um so mehr ist diese absolut friedlich gebliebene Lichterkette ein Beweis für Bürgerwillen von unten, ein Beweis, daß es im Kampf für die demokratische Republik auch ohne Leithammel geht. So bequem, so durch und durch privatisiert, wie sie ein großer Teil der veröffentlichten Meinung sah, sind die Bürger dieser Stadt eben doch nicht. Was sie durch die Lichterkette öffentlich machten, nahm die Botschaft des Weihnachtsfestes ernst: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Anita Kugler
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