■ Die Anderen: "Frankfurter Rundschau", "Süddeutsche Zeitung" und "Berliner Zeitung" zum Parteitag der Grünen
Zum Parteitag der Grünen schreibt die „Frankfurter Rundschau“: In einer Zeit, da die Bonner Koalition nicht einmal mehr imstande scheint, die gröbsten Mängel im Sozialsystem notdürftig zu reparieren, da die Sozialdemokraten ihre politischen Alternativen vor dem Volk verbergen, als wäre es ein Kind, das noch an den Weihnachtsmann glaubt und dem man deshalb die freudige Überraschung nicht verderben darf, in solcher Zeit läßt das Beispiel von Kassel hoffen. Endlich einmal Inhalte, eine Programmdiskusion, die nicht ausschließlich unter dem Primat der Taktik geführt wird. Mit der SPD den Machtwechsel, mit Bündnis 90/Die Grünen den Politikwechsel, so lautet die Botschaft aus Kassel. Das klingt nach Anmaßung, nach Selbstüberhebung. Es wäre freilich nicht das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, daß wesentliche Impulse zu Reform und Erneuerung von einer kleinen Partei ausgehen.
Ähnlich positiv kommentiert auch die „Süddeutsche Zeitung“: Modern an den Grünen ist, daß sie selbst der absterbenden Arbeitsgesellschaft nicht nachtrauern. Links an den Grünen ist: Sie mögen den Verzicht auf lebenslange Arbeitsplatzgarantien keinesfalls in sozialer Deklassierung enden lassen. Wer vom Umbau der Gesellschaft profitiere, sagen sie, solle die Lasten des Umbaus auch mittragen; und wenn die alten Umverteilungskanäle – über Arbeit – austrockneten, müßten eben neue gegraben werden. Man kann vor soviel ungewohntem Denken zurückschrecken, gewiß; man kann das um so mehr, als keineswegs alles schon ausgegoren ist, was in Kassel an Erneuerungsvorschlägen formuliert wurde. Man kann auch weiterwursteln und weiteraussitzen, zur Not in großen Koalitionen. Auf die Grünen, so heißt ihre Botschaft vom Kassler Parteitag, ist dabei nicht zu zählen. Zu dieser Art von Politik wollen sie gar nicht erst fähig sein.
Die „Berliner Zeitung“ sieht in dem grünen Parteitag ein Wende zum Besseren: Es scheint, als sei die Partei erstmals in ihrer fast 18jährigen Geschichte mit sich selbst ins Reine gekommen. Der Beifall für Joschka Fischer war mehr als nur Ovation für eine glänzende Rede. In der Zustimmung zu dem, was er als Profil der Partei skizzierte, lösten sich auch Verspannungen und Verkrampfungen des fast die gesamte Parteigeschichte andauernden Strömungsstreits. Fischer hat sich in Kassel breites Vertrauen erworben, mit dem er jetzt sorgsam umgehen muß. Erste Kritik aus dem eigenen Lager zeigt sein zukünftiges Dilemma: Er habe, so die Vorwürfe von „Realos“, den Linken nicht ordentlich die Leviten gelesen. Nimmt er seine neue Rolle an, darf er sich davon nicht beeindrucken lassen und muß die Partei als Ganzes, in all ihren Facetten, durch die kommenden Monate führen.
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