: Die Ambivalenz der Wut
Die britische Rapperin Little Simz macht aus einer erlittenen Schmach große Kunst. Ihr neues Album „Lotus“ wendet sich gegen den Verrat einer Freundschaft und formt aus der Ohnmacht kraftvolle Songs, bei denen sogar der Teufel in Deckung gehen muss
Von Johann Voigt
Wenn es plötzlich um Millionenbeträge geht, wird’s eklig. Was tun, da der langjährige Produzent die Künstlerin um eine siebenstellige Geldsumme betrogen haben soll? Wenn die Meilensteine des eigenen künstlerischen Schaffens verknüpft sind mit Abgründen persönlicher Enttäuschungen? Dann kommt unweigerlich die Grundsatzfrage auf: Wer bin ich als Künstlerin? Und wie soll ich bitteschön umgehen mit all meiner angestauten Wut? Existenzielles, das nicht mehr nur für Londons beste rappende Erzählerin Simbiatu Ajikawo alias Little Simz eine Rolle spielt, sondern nun auch für alle, die ihr neues Album „Lotus“ hören.
Die Kurzfassung: Ihr langjähriger Produzent und Begleiter Inflo soll Little Simz sehr viel Geld schulden, die Rede ist von umgerechnet zwei Millionen Euro. Einst war Inflo der größte Förderer von Little Simz, er produzierte ihre Songs, fungierte als musikalischer Berater und enger Vertrauter. Beide lernten sich in einem Jugendzentrum kennen, als Little Simz noch im Kindesalter war. Inflo hatte auch ihr Album „Sometimes I Might Be Introverted“ (2021) produziert, ausgezeichnet mit dem Mercury Price, durchzogen von samtweichen Sounds und schönem Popanz, der so gut harmoniert mit Little Simz’ sehr bestimmten Duktus. Der Anfang einer Erfolgsgeschichte.
Aber all das ist nun aus und vorbei. Zerbrochen ist die künstlerische Symbiose am Geld, nun streiten sich die beiden Parteien sogar vor Gericht. Kommuniziert wird nur noch über Anwälte. Was bleibt, sind die Wut und die Suche nach der eigenen musikalischen Identität. Von „Survival Mode“ rappt Little Simz gleich im Auftaktsong ihres Albums, „Thief“. Und sie spricht davon, dass Täter einen glauben lassen, man sei verrückt. Sie skizziert den Teufel, der das Leben verkauft, der die Träume verrät, der einen emotional und finanziell aussaugt, bis nichts mehr übrig bleibt.
Im Hintergrund läuft dazu ein minimierter, seelenruhig dahinpluckernder Basslauf, der all diesen ausgekotzten Ballast aufzufangen versucht. Wer mit Teufel gemeint ist, das wird zwar nicht explizit erwähnt, aber Hörer:Innen können es sich sofort denken. Das schief gesungene „Lalala“, das im Song wiederholt wird, klingt schließlich wie eine Annäherung an einen Zustand des Wahnsinns. Da passiert gleich was, scheint dieses „Lalala“ zu sagen. Geh mal lieber in Deckung jetzt!
„Lotus“, das steht bereits nach den ersten Takten von „Thief“ fest, ist das interessanteste Album, das die 31-jährige Londonerin bisher veröffentlicht hat. Denn die Musik basiert auf dem unfreiwilligen Ausstieg aus der künstlerischen Komfortzone. Auch wenn Little Simz in ihren Reimen immer schon lyrisch gehadert hat, mit sich selbst, mit ihrer Vergangenheit, mit der britischen Gesellschaft und mit der Musikindustrie. Doch noch nie klangen ihre Reime so existenzialistisch wie jetzt.
Blickt man etwas zurück in ihrem Schaffen, auf das Jahr 2015, auf ihr Debütalbum „A Curious Tale of Trials + Persons“ und dem Finale, „Fallen“, dann klingt es bereits wie eine Prophezeiung: „All good things gotta come to an end sometimes“, rappte Little Simz damals. Sie sagte mir in einem Gespräch zum Album: „Alle Künstler:Innen gelangen irgendwann zu dem Punkt, an dem es nicht mehr so läuft wie geplant. Dann weiß man nicht weiter. Ein Abstieg.“ Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: „Ich würde trotzdem weitermachen.“ Heute erfährt man nun, wie kompliziert dieses Weitermachen ist und wie meisterhaft es bei ihr klingt. Little Simz offenbart in ihrer Handschrift auch einen äußerst komplexen Umgang mit Wut und Trauer.
Denn wenn die Wut einen erst einmal vereinnahmt hat, gibt es kein Zurück mehr. Die Frage ist, durch welche Tür man tritt. Lässt man sich zerfressen von der Wut – wird sie zur Persönlichkeit, die einen in die Depression zieht, zur Zynikerin macht oder zu Hass treibt, der in einem „Kill Bill“-artigen Rache-Massaker mündet? Jene Ambivalenz der Wut macht Zorn als Leitmotiv in der Kunst und vor allem im Pop so interessant.
Little Simz hat auf „Lotus“ den schwersten Weg eines Umgangs mit ohnmächtigen Gefühlen gewählt: Selbstreflexion mit all ihren Hürden, Zwischentönen und Sackgassen. Allein schon diese Methode hebt die integre Künstlerin ab vom Mainstream des britischen Rap, der in den letzten Jahren international sehr erfolgreich war. Zwischen düsteren Gewaltfantasien und ausbuchstabierten Betrugsmaschen im UK Drill und post-ironischen, von Meme-Kultur durchsetzten Konsumwahn von Rappern wie YT und Fakemink blieb wenig Platz für eine ausufernde Innenschau. Stimulation statt Introspektion bildet das große Verdrängen in einer immer komplexer werdenden ultrakapitalistischen Welt ab. Widerspruch ist vielleicht noch in der Inszenierung von Kae Tempest zu finden. Deren Musik steht Nischenlyrik aber näher als mehrheitsfähigen Rapsongs. Little Simz dagegen kann komplexe Inhalte in Reimform so vermitteln, dass man sie unabhängig vom Milieu versteht. Die 13 Stücke auf „Lotus“, alle betitelt mit starken Begriffen wie „Blood“, „Free“ oder „Lonely“, funktionieren als Abbild von sich zerfasernden inneren Konfliktfeldern nach dem großen Knall.
Die früher charakteristischen samtweichen Bombast-Produktionen von Inflo sind auf dem neuen Album viel poröseren Soundgebilden gewichen. Im Track „Flood“ etwa blitzen irre synthetische Klänge urplötzlich zwischen dem reduzierten Gerüst aus Bass und Kickdrum auf und verschwinden sogleich wieder. Little Simz’Vortragsweise verrät währenddessen einerseits, dass sie Selbstdisziplin wahrt. Doch was sie andererseits sagt, spiegelt die Wut und offenbart das innere Brodeln: „Takes a million to send you to prison“, rappt sie. Die Gastmusiker:Innen Obongjayar und Moonchild Sanelly brechen mit der nach Außen getragenen Ruhe von Little Simz. Sie nehmen innerhalb des Songs die Rolle von Extensions ein, die durch den Ausdruck in der Stimme das emotionale Spektrum erweitern.
Auf diese Art funktionieren viele Songs auf „Lotus“. Während Little Simz sich aus der Musik raus- und wieder reinzoomt, ihre Verletzungen und das künstlerische Ich zu durchdringen versucht, sich auf „Free“ mit den Wechselwirkungen von Liebe, Furcht und Freiheit auseinandersetzt, bleibt sie stimmlich stets bedacht. Sie versteckt ihre Stimme nicht hinter Effekten, bewahrt ihre Rohheit, lässt ihre Songs teils wie eine Spoken-Word-Performance klingen. Das macht Little Simz als Künstlerin äußerst nahbar. Diese Stringenz wird, und das ist ein essenzieller Punkt, immer wieder aufgebrochen durch das Schwirren und Klirren der Sounds und durch den entrückten Gesang anderer Musiker:innen.
Was also bleibt hängen nach diesen 13 Kapiteln über den Widerstand und seine Genese auf „Lotus“? Sie zeigen: Little Simz braucht keinen Inflo. Ihre musikalische Autonomie funktioniert hervorragend. Little Simz dabei zu folgen, wie sie sich durch ein Dickicht aus Afrobeats und Lounge-Piano, Synth-Signalen und Funk-Grooves, Dean-Blunt-artigen LoFi-Gitarrenloops und Falsett-Chören schlägt, ohne außer Atem zu geraten, erinnert an Leistungssport. Das Beste aber ist, dass die Musik von „Lotus“ eben nicht zum bloßen Hass-Pamphlet wird. Das wäre in unserer ohnehin polarisierten Welt, in der Interessen mit immer größerer Skrupellosigkeit durchgesetzt werden, eine vorhersehbare Spiegelung gewesen. Little Simz dagegen scheint ernsthaft an Reflexion interessiert und befindet sich längst auf dem Wege der Besserung. Das hört man im humorvollen Track „Young“ und dem verspielten „Lion“. Sie auf diesem Wege zur Transzendenz zu begleiten, ist eine echte Bereicherung.
Little Simz: „Lotus“ (Little Simz/Awal)
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