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DiätIm Land der Kohlehydrate

Zwischen Diät und Psychotherapie: Der Brite William Leith hat ein Buch über sein Abnehmen geschrieben. Damit wirft er erneut die Frage auf, was gutes Essen ist.

Bang ist Blick auf die Waage Bild: dpa

Der englische Journalist William Leith befand am 20. Januar 2003, dass es an der Zeit war, weniger und anders zu essen. Das Datum trug er nicht nur als "fettesten Tag meines Lebens" in seinen Kalender ein, sondern auch als Wendepunkt. Er wollte sich nicht länger vor sich selber ekeln, und er wollte wieder Sex mit seiner Freundin haben, die jede Lust darauf verloren hatte. William Leith begab sich auf eine lange Reise, über die er später das Buch "The Hungry Years. Confessions of a Food Addict" schrieb. Der New Yorker fand dafür die treffende Beschreibung: Bridget Jones mit einem Y-Chromosom.

Was William Leith zwischen Diät und Psychotherapie erlebt hat und wie weit es ihm gelungen ist, das eigene Gewicht unter die Hundertkilomarke zu senken, liest sich wie ein Abenteuerroman in den erst im 20. Jahrhundert entdeckten Landen der Proteine und Kohlehydrate, der Wiederholungszwänge und Fixierungen. Mit seinem Buch liegt er im Trend, denn in dem Maß, in dem die Möglichkeiten zur Stillung des Hungers gewachsen sind und der Kühlschrank den eigenen Körper als Vorratskammer ersetzt hat, ist die Zufriedenheit mit dem leiblichen Dasein in den westlichen Gesellschaften anscheinend gesunken. Übergewicht ist als Thema so allgegenwärtig, dass es leicht zu übersehen ist. Die Titelblätter von Frauenzeitschriften geben einen deutlichen Hinweis darauf, dass zwischen Idealmaß und Selbstwahrnehmung ein Widerspruch besteht, der längst von allen möglichen Branchen bewirtschaftet wird.

Kürzlich ist auch die Bundesregierung darauf aufmerksam geworden, dass falsche Ernährung und damit einhergehende gesundheitliche Probleme jährlich Kosten von geschätzt 70 Milliarden Euro verursachen. Sie möchte darauf mit einem Aktionsplan reagieren, bei dem schon im Kindergarten über richtige Ernährung aufgeklärt werden soll. Zudem sollen Sport und Bewegung gefördert werden, die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Volkskrankheiten sollen weiter untersucht werden, und die Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen bei der Förderung eines gesunden Lebensstils soll verbessert werden. Vor allem aber soll es besseres Essen in der Mittagspause geben. Hunderttausende Deutsche nehmen mindestens eine Mahlzeit pro Tag außer Haus ein, in Kantinen und Schulspeisungen, in Mensen und Altenheimen und, ja, auch in Krankenhäusern. An vielen dieser Orte kann die öffentliche Hand auf den Speiseplan einwirken, und das soll nun auch geschehen. Ob einer der deutschen Popköche dabei das Consulting übernimmt (Alfred Biolek? Sarah Wiener?) wie Jamie Oliver für die Schulküchen in England, ist noch offen. Mit einiger Verspätung ist die Regierung damit auf einen Zusammenhang aufmerksam geworden, der international schon lange die Debatte bestimmt. Die lebenslange persönliche Suche nach einem Wohlfühlgewicht oder einem Modelkörper ist nur die Selbstverwirklichungsvariante eines Phänomens, hinter dem längst eine neue soziale Frage sichtbar geworden ist. "Warum wir so fett sind", ist in den USA ein geläufiges Thema für intellektuelle Debatten. In das "Wir", von dem dabei die Rede ist, sind die Schlanken eingeschlossen, die Dicken verkörpern in diesem Verständnis eine Fehlentwicklung der ganzen Gesellschaft. Sie leben am eigenen Leib den Widerspruch zwischen der Überproduktion von Nahrungsmitteln und der Unterversorgung mit Sättigungserfahrungen aus.

In Deutschland war vor einer Weile schon einmal von Ernährung und Volksgesundheit die Rede, damals hing das Thema aber zu direkt mit dem verpönten Wort von der "Unterschicht" zusammen. Als ein Institut herausfand, dass die Kinder armer, schlecht ausgebildeter Eltern dreimal so häufig dick oder gar fettsüchtig sind, prägte die FAZ den Begriff des "neuen Kaloriats". Wo früher einmal, so wurde damit insinuiert, die Proletarier aller Länder auf die Straße gingen, um die Produktionsmittel in die Hand zu bekommen, schleppen sich heute die Arbeitslosen in die Burger-Bude oder zum Dönerstand und bilden dort eine neue Internationale der falschen Ernährung. "Fressen ist also so etwas wie das innere Exil der Armen in der Globalisierung."

Was der Journalist Christian Schwägerl in seiner Glosse mit diesem Satz nur kurz angedeutet hat, verdient nähere Überlegungen. Denn hinter der Frage nach der richtigen Ernährung lauern die älteren Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit. Wenn fettleibige Menschen bei der Arbeitssuche und im Gesundheitswesen in Hinkunft, ähnlich wie die Raucher, mit zunehmender Diskriminierung rechnen müssen, dann sanktioniert die Gesellschaft einen Ausschluss, den sie selbst produziert hat, zum zweiten Mal. Denn das Essen, bei dem, wiederum wie beim Rauchen, Genuss und Selbstschädigung ganz eng beisammenliegen, ist in keinem größeren Maße eine autonome, freie Handlung als alle anderen Formen der Teilhabe am gesellschaftlichen Verkehr. Das Essen ist jener Bereich des alltäglichen Lebens, in dem die natürlichen Begierden besonders leicht zu einer schnellen Befriedigung gebracht werden können. Während die Sexualität, wo sie nicht allein oder vor dem Fernseher oder dem Computerschirm bleibt, eine gewisse Kultur der Begegnung (und seien es auch nur Aufreißersprüche) erforderlich macht, braucht es zum Essen im Zweifelsfall nur ganz wenig Überlegung. Wer einmal der eigenen Küche entfremdet ist, gibt sich nicht so leicht eine zweite Chance.

Fast Food erscheint dabei wie eine Abkürzung, dabei enthält jedes Menü aus Burger, Pommes Frites und Soft Drink auch heute noch einen Lebensentwurf, hinter dem sich die ganze Dynamik von Rationalisierung und Effizienzsteigerung verbirgt, die inzwischen längst die arbeitende Bevölkerung erreicht hat. In einer Wirtschaftsordnung, die das Sinken der Reallöhne durch Diskontpreise für miese Waren kompensiert, finden sich viele Menschen notgedrungen vor Supermarktregalen wieder, in denen Fleisch liegt, das fast nichts kostet und fast nichts wert ist. Niemand isst einfach, was der Körper "mir sagt", die Ernährung ist eine komplexe Angelegenheit aus Wissen und Nichtwissen, die durch die Attraktionen der Werbung gesteuert werden. Was den fortgeschrittenen Konsumenten der Austausch über die neuesten Weinregionen ist, ist am anderen Ende der Lebensqualität die tägliche Suche nach Sonderangeboten. Fernsehköche, die jeden Tag für ein paar Euro und in fünfzehn Nettominuten ein ansprechend aussehendes Menü herstellen, tragen ihren Teil zu der Lüge bei, dass Ernährung nichts kosten muss, während auf der anderen Seite beim Genuss nicht gespart werden soll.

Selbst für interessierte Esser ist es dabei schwer, sich einen Reim auf die täglich neuen Erkenntnisse aus Ernährungswissenschaft und Warenkunde zu machen. William Leith ist dafür ein gutes Beispiel. Er verfällt, wie ein paar Jahre lang halb Amerika, auf die Atkins-Diät, die tierische Fette propagiert und Kohlehydrate aus der Küche verbannt. Das kurz gebratene Steak wurde dabei rehabilitiert, während italienische Pasta,die lange Zeit vor allem der meist mediterranen Beigaben Olivenöl und Knoblauch wegen in sehr gutem Ruf stand, nun unter das Anathema fiel. "Low Carb" war nichts als ein weiterer Versuch, die Vielfalt des Essens auf einen Slogan zu reduzieren, der an jedem Regal im Warenhaus angebracht werden kann.

Die Atkins-Diät hatte einen Boom, der nicht zuletzt auch der Fleischindustrie gut gelegen kam. Nicht ohne Grund wendet Frances Moore Lappé in ihrem Buch "Diet for a Small Planet" die ganze Angelegenheit ins Globale: Sie setzt bei der intensiven Fleischproduktion an, auf deren Bedürfnisse weltweit der größte Teil der Landwirtschaft ausgerichtet ist. Für ein "Fleischprotein" gehen zwanzig "Pflanzenproteine" verloren; eine gigantische Fehlleitung der natürlichen Ressourcen, deren Implikationen für den Klimawandel auch erst allmählich in das Blickfeld der breiteren Öffentlichkeit rücken. Lappés Argument ist in der Dritte-Welt-Bewegung seit vielen Jahren geläufig, wo über den Zusammenhang von Über- und Unterernährung immer schon auf einer Ebene nachgedacht wurde, die weit über die Frage nach dem individuellen Idealgewicht hinausgeht.

Wenn, wie es aussieht, auch in Zukunft parallel zu den Aktionsplänen der Bundesregierung das "neue Kaloriat" wächst, dann werden damit neue Formen von Ungerechtigkeit sichtbar und der Staat, das öffentliche Gesundheitssystem vor allem, muss dafür aufkommen, was die Konsumgesellschaft ihm einbrockt. Die Politik muss sich nicht um Body-Mass-Indices kümmern, wohl aber vermittels der öffentlichen Institutionen - um die Gesundheit von Schulkindern. Diese Einsicht beginnt sich jetzt durchzusetzen, die größeren Zusammenhänge zwischen Landwirtschaftspolitik und Supermarktpreisen spart Verbraucherschutzminister Seehofer tunlichst aus. Warum wir fett sind, auch wenn wir vielleicht persönlich nicht (ganz so) fett sind, ist eine Frage, die so einfach nicht zu beantworten ist. Sicher ist, dass der freie Markt keineswegs die bestmögliche Küche für eine größtmögliche Anzahl von Menschen produziert.

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