Deutschland und Antisemitismus : Wer von Befreiung spricht
Die Welt wurde am 8. Mai 1945 befreit, nicht die Deutschen. Der Preis der Verdrängung dieser Tatsache ist ein bis heute tiefsitzender Antisemitismus.
Von UDO KNAPP
„Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
Die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker ist die größte politische Rede eines deutschen Politikers zum Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland. Weizsäcker setzt bis heute unverrückbar gültige geistige und intellektuelle Maßstäbe für eine nachdenkende, selbstkritische Auseinandersetzung mit der Schuld an den deutschen Verbrechen – vom 30. Januar 1933, dem Tag von Hitlers Machtergreifung, bis zum vollständigen Sieg über Nazi-Deutschland im Mai 1945.
Die ganze Welt musste antreten, um Deutschland zu besiegen. Zwischen 60 und 80 Millionen Menschen sind im II. Weltkrieg umgebracht worden. Allein beim Kampf um die Einnahme Berlins sind in den letzten Monaten vor Kriegsende etwa 180.000 russische Soldaten gestorben. Am 25. April 1944 besiegelten amerikanische und russische Soldaten auf der Elbbrücke in Torgau den Sieg der alliierten Truppen. Die Kämpfe waren damit noch nicht zu Ende. Deutsche Truppen und der Volkssturm mordeten weiter. Die Deutschen standen bis zum letzten Tag unverrückbar an Hitlers Seite. Sie waren nicht die unglücklich Verführten der Nazis, sie waren seine treuen Gefolgsleute, sie waren Mittäter. Weizsäckers Bild von der Befreiung ist deshalb auch ein Euphemismus. Das gilt auch unter Berücksichtigung aller Bemühungen in der Geschichte der Bundesrepublik um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld.
Vom Massenmord an den Juden wollte die Mehrheit der Deutschen nichts gewusst haben
Tatsächlich befreit wurden die Überlebenden der Konzentrationslager und der Todesmärsche. Von deren Existenz und den Massenmorden an den Juden wollte die Mehrheit der Deutschen nichts gewusst haben. Die Militärrichter ließen noch bis Anfang Mai 1945 Deserteure an Straßenbäumen aufhängen und Bürgermeister erschießen, die ihre Städte kampflos übergeben wollten. Mit den weißen Fahnen in den Fenstern der Besiegten entschuldete sich das Volk der Täter in eine selbstgerechte Opferhaltung und in das oft lebenslange Beschweigen der eigenen Verstrickungen in die deutschen Verbrechen. Von jetzt auf gleich waren die Deutschen im Mai 1945, durchaus nachvollziehbar, in der Hauptsache damit beschäftigt, im Nachkriegschaos das eigene Weiterleben zu sichern. Die Nürnberger Prozesse wurden in aller Öffentlichkeit von der Presse, den Kirchen und den neuen Parteien, vor allem der FDP und der CSU, in als unrechtmäßige, sprich ungerechte „Siegerjustiz“ eingeordnet.
Bis zum Auschwitzprozess 1967 in Frankfurt brauchte es mehr als zwanzig Jahre. Bis das Morden der Einsatzgruppen und der deutschen Armee in den besetzten Ländern wenigstens öffentlich bekannt wurde, sind nochmal Jahrzehnte vergangen. Vor Gericht gestellt wurden nur wenige der Mörder. Wenn dann doch einige verurteilt wurden, waren sie schon bald wieder auf freiem Fuß. Die Richter, Professoren, Lehrer, Staatsdiener aller Ebenen machten sich nach einer profanen Entnazifizierung an alter Stelle wieder an die Arbeit.
Alle gemeinsam „sprachen sehr schnell nur noch von Wiederaufbau. Als könnte man damit das Geschehene ungeschehen machen.“ So beschreibt der Schriftsteller und Autor Georg Stefan Troller, 99, seine ersten Eindrücke von den besiegten Deutschen. Troller war Jude und hatte 1936 als 16jähriger in die USA fliehen können. 1945 kam er als amerikanischer Soldat nach Deutschland zurück und war beteiligt an der Befreiung des KZ Dachau. Schnelle Erfolge beim Wiederaufbau wurden seiner Beobachtung nach als Unschuldserklärung begriffen und gelebt. „Aber er hat doch auch ein Gewissen, der Mensch, anders als die Tiere, nicht wahr?“, schreibt Troller. „Und wo blieb das Schuldgefühl damals, wo blieb das Bekennen, die Reue, verdammt nochmal? Das ist meine hauptsächliche Erinnerung, 75 Jahre zurück“.
Was Weizsäcker als „Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ einordnete, war im Nachkriegsdeutschland vor allem Vergangenheitsverdrängung. Verdrängt wurde, bis heute wirksam, aber nicht nur die eigene Verstrickung ins Naziregime. Negativ und selbstentlastend besetzt wurde zugleich die keineswegs zwingende humanistische Größe Amerikas, mit einem bis heute tiefsitzenden Antiamerikanismus.
Ein Persilschein, die deutschen Verbrechen zu relativieren
„Das amerikanische Volk wünscht, dem deutschen Volk die Regierung Deutschlands zurückzugeben. Das amerikanische Volk will dem deutschen Volk helfen, seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt“, hatte der damalige US-Außenminister Byrnes am 6. September 1946 in seiner „speech of hope“ in Stuttgart erklärt: Den Deutschen in den westlichen Besatzungszonen wurde die Chance eingeräumt, wenn auch unter völkerrechtlich bis 1990 geltenden Einschränkungen ihrer vollen Souveränität, einen selbstbestimmten Weg in eine demokratische Zukunft einzuschlagen. Zwingend war diese Entscheidung keineswegs. Die Alliierten des Westens hätten angesichts der deutschen Menschheitsverbrechen mit allem Recht auch den Morgenthau-Plan umsetzen können. Dieser Plan sah die dauerhafte Umwandlung Deutschlands in ein sich selbst versorgendes Agrarland vor. So sollte verhindert werden, dass Deutschland nach zwei von ihm schuldhaft vom Zaun gebrochenen Weltkriegen jemals wieder zu einer Bedrohung für die Welt werden könnte.
Was Weizsäcker als Befreiung kennzeichnet, war für die Bundesrepublik nicht nur die geliehene Freiheit zum Wiederaufstieg, sondern auch ein Persilschein, die eigenen Verbrechen zu relativieren. Sicher ist einzuräumen, dass die Bundesrepublik diese historische Chance vor allem unter der Führung des Kanzlers Konrad Adenauer und in der Folge von Willy Brandt und Helmut Kohl bis zur Wiedervereinigung mit großem Erfolg genutzt hat. Der Preis dafür aber ist das bis heute nur aus der Gesellschaft heraus erzwungene Bearbeiten der deutschen Schuld und in weiten Teilen der Bevölkerung ein tiefsitzender Antisemitismus. „Das Gestern und das Heute liegen nah beieinander. Das Wunderbare der Gegenwart ist nur dünnes Eis“, sagte Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen in der letzten Woche. Und hat damit sehr Recht. Rahel Mann, 84, eine Ärztin, die als Fünfjährige in einem Schrank versteckt den Holocaust überlebt hat, klärt seit Jahren in Schulen über den Nationalsozialismus auf. Sie führt Ramelows Wahrnehmung fort. „Ich denke, dass sich die Geschichte wiederholen wird. Und ich bin froh, dass ich das nicht mehr erleben muss“, sagt sie.
Bei allem Respekt vor Richard von Weizsäcker: Der 8. Mai sollte nicht als Tag der Befreiung, sondern als Tag des gerechten Sieges über die Deutschen begangen werden.
UDO KNAPP ist Politologe.