: Deutsch-Stunde für Rudi Dutschke
■ Diskussionsrunde in der taz zu neuen Entdeckungen in Ulrich Chaussys überarbeiteter Biographie / Woher stammte sein Interesse an der deutschen Frage?
Uli Chaussys Lesung im „Rudi- Dutschke-Haus“ der taz samt anschließender Diskussion nahm einen von allen Teilnehmern unvorhergesehenen, dafür aber um so instruktiveren Verlauf. Statt des üblichen Turniers der Mißverständnisse und gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen den 68ern und der nachfolgenden politischen Generation geschah so etwas wie der Versuch der politischen und psychologischen „Verortung“ Rudi Dutschkes in den deutschen bzw. märkisch-brandenburgischen Verhältnissen. Wie kam es, daß Dutschke, der sich so sicher und selbstverständlich im Kategoriensystem der Weltrevolution bewegte und dem kein Winkel der Welt fremd war, wo Unterdrückte gegen ihre Herrscher aufbegehrten, gleichzeitig ein so brennendes Interesse an der deutschen Frage, an der Überwindung der deutschen Spaltung hatte? Ist er vielleicht nicht nur ein nach Westberlin entlaufener „Ossi“ gewesen, sondern darüber hinaus ein verkappter Nationalbolschewist?
Uli Chaussy las aus der Biographie das Kapitel über die Schulzeit Dutschkes, das er nach der „Wende“ aus Interviews mit Verwandten und Jugendfreunden, aber auch aus jetzt zugänglichen SED-Archiven erarbeitet hatte. Wir erleben einen gläubigen, dem Sozialismus zugeneigten, aber gleichzeitig gegenüber dem verlogen-autoritären „Lehrkörper“ rebellierenden Jungen, der sich tapfer weigert, sein pazifistisches Credo den veränderten Umständen anzupassen, und dadurch jede Aussicht auf einen Studienplatz verliert. Der Direktor ist als ehemaliger Eleve der nazifaschistischen „Napola“ seinen neuen Herren verdächtig, daher besonders linientreu und denunziationsbereit. Er wird ein Jahr nach Rudis Tod in den Westen abhauen und sich später seines ehemaligen Schülers partout nicht erinnern können. Hingegen wäre Rudi, wenn es nach ihm gegangen wäre, geblieben.
Nach Bernd Rabehls, seines Freundes und Kampfgenossen Meinung, ist es dieser Haß auf die würgende, provinzielle Enge seiner Jugendzeit, die Dutschkes radikale Ablehnung des Realsozialismus motiviert, ihn in der „Metropole“ Westberlin nicht nur zu den Subversiven, nicht nur zu den Studenten des SDS treibt, sondern ihn auch auf die Seite der bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen. Andererseits stand er nach Rabehls Meinung unter dem dominierenden Einfluß seiner Mutter, die ihn an die streng protestantischen, pazifistischen Maximen des Elternhauses, an die brandenburgische Kindheit fesselt.
War Rudis Kritik am Realsozialismus, sein Eintreten für die deutsche Einheit wirklich demokratisch fundiert? Für die Mehrzahl der Diskussionsteilnehmer dieses Abends war das keine Frage. Sie hatten, sei es persönlich oder in seinen Schriften, einen Menschen kennengelernt, der den Sozialismus demokratisieren, der westlichen Demokratie aber ein sozialistisches Fundament geben wollte. Mit der Ansicht, er habe in den nationalen Befreiungsbewegungen die eigentliche „identitätsbildende“ Quelle und die Antriebskraft für emanzipatorisches Handeln gesehen, mochten sich im Rudi-Dutschke-Haus nur wenige anfreunden. Also doch kein Nationalbolschewist, sondern ein „westlicher“ Ossi-Linker. taz
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