: Der weite Weg der Kaltmamsell
■ „Guck ma', schielt ja“: Ortrud Beginnen in der NachtKantine
Der strenge Blick, die stolze Geste können (und sollen) die Freude über das bis zur Treppe gedrängte Publikum nicht verbergen. Streng schwarz mit weißem Sacko drüber, das rote Haar zur Seite gesteckt, betritt Ortrud Beginnen die Bühne und bezieht auf dem roten Plüschsofa Position. Dem „Ähem, ja“ folgen erste Lacher. Der Auftritt des ehemaligen Mitglieds des Schauspielhaus-Ensembles in der NachtKantine war vom ersten Moment an ein Heimspiel.
Bescheiden angekündigt als Lesung aus ihrer neuerschienenen Familienchronik „Guck' mal, schielt ja“, bot sie mit Pianist Gerd Bellmann eine Mischung aus deutschem Liedgut, Anekdoten und – leider nur – drei Kapiteln aus den Berichten ihrer Familienkatastrophen. Diese besteht vor allem aus ehe-, aber nicht immer kinderlosen Frauen: „Dienstmädchen auf dem Weg zur Künstlerin“, – „gescheitert“. Mit zerstreutem Habitus, gezielten, zum Beispiel Freudschen Versprechern berichtet Ortrud Beginnen, abwechselnd erzählend und vorlesend, von den Sehnsüchten der Kaltmamsells und Dienstmädchen nach familiärem Glück und Höherem. Tragikomische Erlebnisse, die gleich zweimal in Hamburger Wasserkanälen enden.
Oder das deutsche Liedgut: Den „altdeutschen Liebesreim“ bändigt Ortrud laut-schrill zwischen Pathos und Parodie. Zur Melodie von „Es ist ein Ros entsprungen“ verkündet sie quasi in Minne-Tradition einen Reim-Dich-oder-freß-Dich-Text über Großtante Frida, Rezitativ inklusive. Nach einem Bericht über die nur durch Mithilfe einer Ahnin geglückte Geburt Hans Albers, folgt eine gnadenlose, Gesten- und Mimik-sichere Parodie des blonden Hans. Tragischer Höhepunkt der Bericht über die Tanzschulenzeit in Neumünster. „Reiß Dich zusammen, so schlimm ist sie nicht.“ So angespornt endet die Pflicht im Debakel. Von diesen Verletzungen berichtet sie mit inszenierter, vornehmer Überheblichkeit, zwischen Noblesse und Nervenzusammenbruch, unbeschreiblich und immer komisch. Ihre eigene Geschichte betrachtet Ortrud Beginnen in der gleichen unnachahmlichen Art, mit der sie ihr Publikum behandelt: Zwischen Liebe und Verachtung. Nicht nur dafür wurde sie lachend gefeiert. Niels Grevsen
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