DIE EU ALS SÜNDENBOCK: BRÜSSEL IST NICHT URSPRUNG ALLEN ÜBELS : Der wahre Kommunikationsfehler
Auch am Tag nach dem zweiten gescheiterten Referendum redeten gestern in Brüssel wieder alle wirr durcheinander. Zwei Sätze aber finden sich in jedem Kommentar, egal aus welcher politischen Ecke er kommt: „Wir müssen den Bürgern besser zuhören“ und „Wir müssen den Menschen Europa besser erklären“.
Beides ist Blödsinn. Der Konvent, der den Rohentwurf für die Verfassung erarbeitete, widmete viel Energie dem Dialog mit der Zivilgesellschaft. 18 Monate lang reisten die Konventsmitglieder außerhalb der Sitzungswochen durch die Mitgliedsstaaten und Beitrittsländer und hörten zu. Viele, die sich in den vergangenen Wochen in die Debatte in Frankreich und Holland einschalteten, hatten damals zum Thema Europa aber nichts zu sagen. Diejenigen, die sich für den Verfassungsprozess interessierten – Mitglieder der sozialen, pazifistischen und ökologischen Bewegungen –, stellten ernüchternd fest, dass ihre Forderungen nicht konsensfähig waren und in den Abschlussverhandlungen der Staats- und Regierungschefs in der Kompromissmühle zermahlen wurden.
Sie hatten das Angebot zum Dialog ernst genommen. Dass sie nun enttäuscht gegen diese Verfassung gestimmt haben, die sie als Etikettenschwindel empfinden, ist verständlich. Müsste man nur diesen Neinstimmen Rechnung tragen, wäre die politische Antwort einfach. Ein neuer Konvent wäre notwendig, möglichst ohne Beteiligung der Staats- und Regierungschefs. Eine verfassunggebende Versammlung aus Parlamentariern aller Länder würde sich auf einen Text verständigen, der das Herz erwärmt: sozial, basisdemokratisch, ein dreistufiges Europa aus Regionen, Staaten und europäischer Ebene bauend. Würden sich die Regierungen dem erneut in den Weg stellen, hätten sie die Konsequenzen selber zu tragen.
Doch vielen im Nein-Lager geht es nicht darum, dass die Demokratie endlich in Brüssel ankommt. Sie wollen nicht mehr Europa, sondern weniger. Aus dem vielstimmigen Protest kann sich jeder Politiker herauspicken, was ihm gefällt. Ob man von der Wiedereinführung des holländischen Guldens träumt, in einer Türkei-Mitgliedschaft das Ende des Abendlandes erkennt, den Einsatz europäischer Truppen in Übersee ablehnt oder den Zorn gegen Sozialabbau ausdrückt – all diese Haltungen sind im Non und Nee enthalten.
Hätte man also, wie nun von frustrierten Journalisten gefordert, die europäische Debatte, den Dialog zwischen einer Hausfrau aus Sizilien und einem Postbeamten aus Südschweden in Gang bringen müssen? Dieser Versuch ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt, denn die sprachlichen und kulturellen Hürden sind zu hoch. Der Diskurs über das, was Europa werden soll, beschränkt sich auf die politischen Eliten – das ist im nationalen Rahmen nicht anders, und das wird auch in Zukunft so bleiben.
Das Debakel der vergangenen Tage hat aber deutlich gezeigt: Während das europaweite Debattieren die Entfremdung eher verstärkt, das europaweite Zuhören weitere Dissonanzen an die Oberfläche bringt, kann durchaus ein gemeinschaftliches Gefühl entstehen. Der Mythos, dass Brüssel an allen Übeln schuld ist, legt sich über den Kontinent wie Mehltau. Gestern in Holland, vorgestern in Frankreich – morgen vielleicht in Luxemburg, Polen oder Dänemark. In Luxemburg wollten vergangenen Oktober noch 76 Prozent der Verfassung zustimmen. Bei der letzten Umfrage im Mai gab es nur noch 59 Prozent Jastimmen, mit fallender Tendenz.
Wenn sich grenzüberschreitend negative Gefühle erzeugen lassen, müsste es auch andersherum funktionieren. Statt lediglich besser zuzuhören und besser zu erklären, müssten sich die Politiker billige Polemik verkneifen. Das Spiel, alle bürokratischen Absurditäten, finanziellen Härten und unpopulären Entscheidungen Brüssel anzuhängen und sich selber die Erfolge zu verbuchen, hat prima funktioniert. Kein deutscher Politiker hat sich vor die Wähler gestellt und gesagt: Wir sind es, die einheitlichere Spielregeln in der Innen- und Justizpolitik blockieren. Kein Franzose ist aus Brüssel zurückgekehrt und hat zugegeben: Den Löwenanteil am politisch blödsinnigen Agrarbudget haben wir uns für weitere sieben Jahre zugeschanzt. Statt kurzsichtige Klientelpolitik zu Hause besser zu erklären, sollten alle gemeinsam für Europa Politik machen. Dann würde die Zahl derer, die zu Europa ja sagen, wieder über die 50-Prozent-Marke steigen. DANIELA WEINGÄRTNER