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Archiv-Artikel

Der vorverurteilte Ziehvater

Alle Zeugen sind gehört, neue Erkenntnisse könnte in dem Prozess um den totgeprügelten Kevin nur noch der Angeklagte liefern. Doch auch wenn er reden würde: Die Öffentlichkeit hält ihn für schuldig

AUS BREMEN EIKEN BRUHN

Am letzten Tag der Beweisaufnahme im Prozess um das zu Tode geprügelte Kleinkind Kevin bricht der Anwalt des wegen Totschlags angeklagten Ziehvaters mit seinem Vorsatz, in diesem Verfahren nicht mit den Medien zu sprechen. Zuvor hatte der Staatsanwalt angedeutet, dass er auf Mord plädieren würde.

Das Tatmerkmal der Grausamkeit sei zutreffend, argumentierte gestern Staatsanwalt Daniel Heinke, der diese Linie schon zu Prozessbeginn vertreten hatte. Kevin, so hatten Rechtsmediziner herausgefunden, starb an den Folgen eines schweren Beinbruchs. Sein Ziehvater Bernd K. unterließ es, Hilfe zu holen und nahm damit in Kauf, dass Kevin nach vermutlich mehreren Stunden qualvoller Schmerzen verstarb. K.s Rechtsanwalt Thomas Becker, der zu Prozessbeginn stets versucht hatte, eine Knochenkrankheit als Ursache für Kevins zahlreiche Brüche heran zu ziehen, hielt dem Staatsanwalt Unsachlichkeit vor. Für Mord gebe es keinerlei Anhaltspunkte. Tatsächlich hatte der vorsitzende Richter erklärt, auch eine Körperverletzung mit Todesfolge in die Überlegungen zur Urteilsfindung mit einzubeziehen.

Entscheidend für das Urteil ist auch die Frage der Schuldfähigkeit. Der psychiatrische Gutachter Gunther Kruse bestätigte gestern, dass eine „erheblich verminderte Schuldfähigkeit“ des Angeklagten nicht ausgeschlossen werden könne. Bernd K. sei von mehreren Substanzen abhängig gewesen, in einem Ausmaß, was er noch nie erlebt habe. Zudem habe K. offenbar an einer von Kokain verursachten Psychose gelitten, sagte Kruse. Es sei nicht auszuschließen, dass deshalb schon Kleinigkeiten wie ein Windelwechseln K. aus der Fassung brachten. Gleichzeitig, so Kruse, müsse K. auch Phasen gehabt haben, in denen er hätte erkennen können, dass Kevin bei ihm nicht richtig aufgehoben ist.

Auf diese Idee hätten allerdings auch die vielen Leute kommen können, die mit Bernd K. zu tun hatten, etwa der Jugendamts-Sachbearbeiter und der Amtsvormund, die wegen fahrlässiger Tötung angeklagt sind, sowie sein Arzt, der ihn mit hohen Dosen von Medikamenten versorgte und nicht zuletzt sein Anwalt Thomas Becker, der sich dafür einsetzte, dass Kevin nach dem Tod der Mutter bei seinem Ziehvater blieb. Manch Prozessbeobachter fragte sich deshalb, ob hierin der Grund für die Verteidigungsstrategie liegt, nach der Bernd K. keinerlei Angaben zum Tatgeschehen machte – auch nicht gegenüber dem psychiatrischen Gutachter, der deswegen selbst die Aussagekraft seiner Expertise in Frage stellte. Becker hingegen begründete das Schweigen K.s damit, dass mit einem Verzicht auf ein öffentlichkeitswirksames Geständnis die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens gewahrt bleibe.

Dass manche nicht zwischen einem Gerichtsverfahren und einer Gerichtsshow unterscheiden können, bewies gestern eine Zuschauerin. Plötzlich stand die ältere Frau auf, streckte den Arm in die Luft und wollte wissen, ob sie „jetzt auch mal etwas fragen“ könne. Sie durfte nicht.