Der völkische Herr Lütkemeyer: Extremist der Mitte
Wolfgang Lütkemeyer verkehrte in Erfurts High Society und engagierte sich in einem Verein mit "rassistischen Vorstellungen" - Vorsitzender ist NPDler Jürgen Rieger.
Johanna Scheringer-Wright kann sich das alles nicht erklären. Die Wahrheit, die sie über Wolfgang Lütkemeyer erfahren hat. Scheringer-Wright sitzt für die Linke im thüringischen Landtag. Wolfgang Lütkemeyer war ihr Steuerberater. Und jetzt erfährt sie, dass er enge Kontakte zu Rechten pflegte: Lütkemeyer war Schatzmeister beim "Familienwerk". Ein eingetragener Verein und Teil der rechten "Artgemeinschaft", denn die Mitglieder der Artgemeinschaft sind gleichzeitig Mitglied im Familienwerk. Vorsitzender beider Vereine ist der Hamburger NPD-Funktionär Jürgen Rieger. Die Artgemeinschaft strebt laut Mitteilung des NRW-Verfassungsschutzes eine "Rekonstruktion einer nach dem Grundsatz des Führerprinzips aufgebauten Volksgemeinschaft" an.
Laut Thüringer Verfassungsschutzbericht 2007 wurde die Artgemeinschaft 1951 gegründet und hat ihren Sitz in Berlin. "Sie versteht sich als Glaubensbund, der ,die Kultur der nordeuropäischen Menschenart' bewahren, erneuern und weiterentwickeln will und verbindet germanisch-heidnische Glaubenssätze mit rassistischen Vorstellungen." Bundesweit soll der Verein 150 Mitglieder haben, 10 in Thüringen. Vorsitzender ist der Hamburger Rechtsanwalt Jürgen Rieger. Er "zählt seit Jahren zu den aktivsten Rechtsextremisten Deutschlands", so der Verfassungsschutzbericht. Der Verein trifft sich zu Veranstaltungen, deren vermeintlicher Harmlosigkeit jedoch "das Regelwerk der Artgemeinschaft mit eindeutig rechtsextremistischen Ideologieelementen" entgegenstehe. So gebiete das Sittengesetz den Mitgliedern, " ,Gefolgschaft dem besseren Führer' zu leisten und eine ,gleichgeartete Gattenwahl (als) Gewähr für gleichgeartete Kinder' zu treffen".
Nicht nur für die Landtagsabgeordnete Scheringer-Wright ist es schwer erklärbar, wie Lütkemeyer völlig unbescholten in etablierten Erfurter Zirkeln verkehren konnte. Der Oberstleutnant der Reserve war auch Schatzmeister des thüringischen Landesverbandes des Reservistenvereins. Und war Bezirksbeauftragter der Bundeswehr für die Zivil-Militärische Zusammenarbeit, kurz ZMZ. Und damit sehr nah dran an vielem, was militärisch sensibel ist. Klären kann er die Dinge selbst nicht. Lütkemeyer hat sich im Oktober 2008 erschossen.
Vor wenigen Tagen gab der Reservistenverband eine Pressemitteilung heraus. "Reservistenverband gegen Rechts", lautet der Titel. Weiter unten liest man, dass man jedwedem Extremismus eine Absage erteilt. Der Grund für die Presseerklärung ist ein Besuch in der Löberfeldkaserne in Erfurt.
Der trübe Wintertag lässt das weitläufige Kasernengelände noch ein wenig trister wirken, als es ohnehin schon ist. In langgezogenen Hallen parken die Streifenwagen der Feldjäger, Lkws in Tarnfarben. In einem kleinen Büro, irgendwo auf dem Kasernengelände, warten Michael Sauer, der Vizepräsident, und Ralf Heberer, der für die neuen Bundesländer zuständige Bereichsgeschäftsführer des Reservistenverbandes, um allgemeine Fragen zur Arbeit des Reservistenverbandes zu beantworten. Als der Name Wolfgang Lütkemeyer fällt, wird Bereichsgeschäftsführer Heberer ungehalten. Die Herren verlassen den Raum, um sich zu besprechen. Nach einer halben Stunde wird das Gespräch fortgesetzt. Dem Vizepräsidenten, extra aus Rheinland-Pfalz angereist, scheint der Name Lütkemeyer nicht geläufig zu sein. Sauer erläutert, man bemühe sich sehr, Rechtsextremisten von dem Reservistenverband fernzuhalten, nur gelinge das nicht immer. Man kann Sauer das auch glauben. Bereichsgeschäftsführer Heberer dagegen hält sich zurück. Sein Arbeitsplatz ist hier in der Zeppelinstraße 18, in der Erfurter Löberfeldkaserne. Lütkemeyer ein Rechter? Man ging hin und wieder ein Bier trinken, man kannte sich. Aber so was? Man habe das nicht gewusst.
Warum kann ein Vorstandsmitglied eines rechten Vereins ZMZ-Beauftragter werden? Und damit den Kontakt zu Katastrophenschutzbehörden herstellen, Einblick in Krisen- und Notstandspläne bekommen? Oder, wie es die Bundeswehr auf ihrer Webseite schreibt, für "klare militärische Zuständigkeiten auf allen Ebenen der Zusammenarbeit" vor allem mit Polizei, Feuerwehr und den lokalen Stadtverwaltungen sorgen? Im Krisenfall hätte Lütkemeyer an Planungen zur Gefahrenabwehr teilgenommen, seine Rolle wäre auch die Vermittlung aller Erkenntnisse, also auch strategischer Berichte, zwischen Bundeswehr und zivilen Krisenstäben gewesen.
Hans-Christian Ströbele, Rechtsanwalt und stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, sagt: "Nicht nur im Fall eines Konfliktes, sondern auch in Friedenszeiten haben die ZMZ-Beauftragen Zugang zu sensiblen und sicherheitsrelevanten Informationen und Einblick in Abläufe und Strukturen." Ströbele bescheinigt den Kontrollinstanzen, also Militärischem Abschirmdienst (MAD) und Verfassungsschutzbehörden, Versagen. "Bei ordnungsgemäßer Kontrolle hätte Lütkemeyer auffallen müssen."
Die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Ulla Jelpke, fordert seit langem die Offenlegung der Strukturen der ZMZs. Am Beispiel Erfurt verdeutlichte sie auf Anfrage die Gefahr, die von Rechtsextremen in solchen Positionen ausgeht. So hätte Lütkemeyer an Neonazis, die Terrorakte planen wollten, "Arbeitsabläufe und Pläne für den Krisenfall" von Polizei und Katastrophenschutz weitergeben können. Sie wies außerdem auf die Kritik der Arbeitsgemeinschaft der Berufsfeuerwehren hin. Deren Arbeitsgruppe Zivil- und Katastrophenschutz veröffentlichte im April 2008 ein Papier, in dem es unter anderem heißt, dass die Bundeswehr "keinesfalls Führungsfunktionen (…) übernehmen darf". Auch fehle für das Tätigwerden des Reservistenverbandes oder einzelner Mitglieder als Soldaten die "Rechtsgrundlage".
Wissen können, wer Wolfgang Lütkemeyer wirklich ist, hätte das Bundesverteidigungsministerium. Besonders der MAD hätte es wissen müssen, da dessen Aufgabe unter anderem das Aufspüren von "Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind", ist. Wissen müssen hätte es der Verfassungsschutz, der die Artgemeinschaft und die ihr angeschlossenen Vereine seit Jahren beobachtet. Ein Blick in den Vereinsregisterauszug des "Familienwerks" hätte gereicht: Vorsitzender: Jürgen Rieger, Schatzmeister: Wolfgang Lütkemeyer, Steuerberater aus Erfurt. Im Vorstand der Artgemeinschaft war Lütkemeyer ebenfalls von 1993 bis 2001 aktiv. Laut Satzung der Artgemeinschaft müssen neue Vorstandsmitglieder mindestens drei Jahre Mitglied der rechten Gemeinschaft gewesen sein.
Auch der thüringische Verfassungsschutz beobachtet Riegers Verein seit Jahren. Aber dass Lütkemeyer jeden Donnerstag im Rotary-Club Erfurt-Krämerbrücke mit Thomas Sippel, dem Präsidenten des thüringischen Verfassungsschutzes, in einem Raum saß, ist in seiner Behörde offenbar niemandem aufgefallen. Für die Überprüfung von Sippels Privatkontakten sei der Verfassungsschutz nicht zuständig, heißt es aus der Behörde.
In der Lobby des SAS Radisson finden sich, wie jeden Donnerstag, die Erfurter Eliten ein. Fabrikanten, Manager, Professoren. Bankdirektoren und eben der oberste Verfassungsschützer des Landes. Vor dem Eingang parken dunkle Luxuskarossen. Präsident Thomas Kleb und Sekretär Ernst Bergmann bitten in den Clubraum. Noch sind die fürstlich gedeckten Plätze leer. Als Kleb und Bergmann erfahren, dass Rotarier Lütkemeyer noch andere Hobbys hatte, bricht für die Rotarier eine Welt zusammen. Ungläubig studieren Präsident und Sekretär den Vereinsregisterauszug, auf dem der Name Lütkemeyer und der Name Jürgen Rieger steht. "Was glauben sie, was los ist, wenn man unsere Namen in diesen Zusammenhängen liest?", sagt Kleb. Sofort "hätte man ihn herausgeworfen" oder aber "erst gar nicht aufgenommen."
Doch Lütkemeyers Ruf schien bei den Rotariern bereits ein wenig angekratzt, wenn auch aus anderen Gründen.
Lütkemeyers Witwe nämlich war nach seinem Freitod mittellos. Im Rotary-Club ist Kleb daraufhin mit der Sammelbüchse herumgegangen, "jeder einen Hunderter", so dass Lütkemeyers Witwe sich wenigstens das Nötigste kaufen konnte.
Kurz nach seinem Tod wurde in Thüringen ruchbar, dass Lütkemeyer in der Jagdgenossenschaft "Fahnerhöhe", in der er ebenfalls Schatzmeister war, Geld unterschlagen haben soll. In seinem Wohnort Gierstädt, unweit von Erfurt, erzählen Kleb und Bergmann, versammelte sich daraufhin ein Fackelzug vor Lütkemeyers Anwesen, Nachbarn, die von Lütkemeyer offenbar geprellt wurden, forderten ihr Geld zurück. Im Clubraum der Rotarier hängten sie daraufhin Lütkemeyers Porträt mit dem Trauerflor wieder ab. Und auch die Todesanzeige auf der Internetseite des Clubs verschwand.
Warum war Lütkemeyer überall Kassierer? Beim Reservistenverband, bei der Jagdgenossenschaft? Und bei Riegers Vereinen, erst bei der Artgemeinschaft, dann beim Familienwerk? Beim thüringischen Reservistenverband jedenfalls wird derzeit die Kasse auf Herz und Nieren überprüft. Wurde Lütkemeyer erpresst und brauchte er deshalb Geld? Hat sein Tod etwas damit zu tun? Wo ist Lütkemeyers Geld? Sein eigenes und das unterschlagene?
Todesursache: Selbstmord, eindeutig, Obduktion erfolgt, sagt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Erfurt. Lütkemeyer habe sich mit einer Kurzwaffe umgebracht. Ob das denn seine eigene Pistole gewesen sei? "Wir gehen davon aus", so die Staatsanwaltschaft. Das klingt nach "vielleicht". An Waffen aus Bundeswehrbeständen jedenfalls kommt auch ein Herr Lütkemeyer nicht so einfach heran, sagt Ralf Heberer vom Reservistenverband. Aus gut informierten Kreisen wurde die Aussage der Staatsanwaltschaft noch um ein nicht unwesentliches Detail ergänzt: "Die Schusswaffe war unregistriert, in Deutschland nicht zugelassen." Des Weiteren, so ein Funktionär aus Bundeswehrkreisen, der namentlich nicht genannt werden möchte, "habe einen Tag vor dem Selbstmord eine Hausdurchsuchung bei Herrn Lütkemeyer stattgefunden".
Lütkemeyer? - Habe sich "zurückgezogen", sagt Jürgen Rieger am Telefon. Als Schatzmeister des Vereins ist er beim Amtsgericht Charlottenburg aber noch eingetragen. "Nein, Schatzmeister sei er längst nicht mehr", das habe er wohl vergessen, dem Gericht mitzuteilen, sagt Rechtsanwalt Rieger. Seit 12 bis 14 Jahren sei Lütkemeyer nicht mehr beim Familienwerk erschienen. Lütkemeyer ist aber erst vor gut 14 Jahren, im November 1994, zum Schatzmeister des Familienwerks gewählt worden. Seitdem wurde der Vereinsakte kein weiterer Eintrag hinzugefügt.
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