piwik no script img

Der surreale Sieg der NiederländerDie unglaubliche Apfelsinenblüte

Die Niederländer sind selbst fassungslos über ihren 3:0-Erfolg gegen den Weltmeister. Dabei spiegelt das Ergebnis die Verhältnisse auf dem Platz detailgetreu wider.

Ruud van Nistelrooy und Team freuen sich: Der erste Sieg der Niederlande gegen Italien seit dreißig Jahren. Bild: rtr

BERN taz Joris Mathijsen sehnte sich nach Ruhe in der Dunkelheit. "Wir werden jetzt in den Bus zurück nach Lausanne steigen und nachdenken, wie wir das gemacht haben", sagte der niederländische Innenverteidiger. Fassungslos standen die Sieger nach Ende der Partie vor der eigenen Leistung. "Was wir gespielt haben, war einfach unglaublich", sagte Rafael van der Vaart. Arsenals Robin van Persie sprach nur noch von "Wahnsinn, Wahnsinn".

Der erste Sieg der Niederlande gegen Italien seit dreißig Jahren. Gegen den Weltmeister. Drei zu Null. Das Resultat mutete selbst in den Augen der Niederländer surreal an, dabei spiegelte es letztlich nur die Verhältnisse auf dem Platz detailgetreu wider. Eine Mannschaft griff mit Flügelzange eine völlig indisponierten Abwehr mit miserabler Raumaufteilung an. Die anderen verteidigten mit stoischem Gleichmut und konterten mit erschreckender Cleverness und Präzision.

Dabei hatte man die ganze Woche über im Lager in Lausanne leichtes Unbehagen spüren können. Die niederländischen Medien schienen sich nicht ganz sicher, ob sie bei der von Marco van Basten stur gegen viele Widerstände angezettelten Kulturrevolution mitmachen sollten. Der Bondscoach hatte auf ein für niederländische Verhältnisse ziemlich defensives 4-2-3-1 mit zwei defensiven Mittelfeldspielern umgestellt und sich dafür von Johan Cruyff und anderen Fundamentalisten den Vorwurf des Verrats an der nationalen Leitkultur eingebracht. Seit die WM-Niederlage von 1974 im Nachhinein als Triumph der Schönheit und wahren Werte des Fußballs umgedeutet wurde, reichen gute Ergebnisse nicht mehr aus. Für deutsche Ohren mag sich dieser ästhetische Anspruch schlichtweg absurd anhören, aber wer das merkwürdigste aller Fußballländer verstehen will, kommt an dieser Neurose nicht vorbei.

"Die zwei defensiven Mittelfeldspieler haben uns heute große Stabilität und Sicherheit für unser Spiel verliehen", erklärte Ruud van Nistelrooy. Neben seinem kuriosem, aber regulären 1:0 hatten zwei blitzgescheite Gegenstöße zum Erfolg geführt - und van Bastens Abkehr vom Dogma der Siebzigerjahre validiert.

Nicht weniger als "ein historisches Ereignis", wollte der in den Niederlanden aufgewachsene Fußballbuchautor Simon Kuper ("Ajax, die Niederländer und der Krieg") auf der Tribüne erlebt haben, "als ob das alte Preußen dem Militarismus abgeschworen hätte". Was er meinte, war klar: Kuper trieb in Verzückung, dass sich van Bastens Niederlande in Bern von der Last der Ideale emanzipieren konnte und allein von den Zwängen der Situation leiten ließ. Sie sind, mit anderen Worten, zu einer ganz normalen Spitzenmannschaft geworden. Das war für ihn die eigentliche Sensation.

"Wir haben noch nichts", mahnte Mathijsen mit Blick auf die weiteren Spiele gegen Frankreich und Rumänien, "wenn wir zweimal verlieren, sind wir trotzdem draußen". Der 27-Jährige blieb ganz cool. "Welche Diskussion?", fragte er mit gespielter Ungläubigkeit zurück, als sich jemand nach den fußballphilosophischen Konsequenzen des Triumphs erkundigte. "Es gibt keine Diskussionen. Jetzt nicht mehr."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!