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Archiv-Artikel

Der russische Autor Vladimir Sorokin liest im Literaturhaus aus seinem bizarren Roman „Ljod“ Gemeinschaft des Lichts

„Ich hab geheult wie lange nicht mehr. Wie nie zuvor im Leben. Und plötzlich stehe ich nackig irgendwo herum, werde an den Händen gehalten, und es geht mir gut (...) und alles ist irgendwie eins und auch wieder nichts, nichts als Licht.“

Hört sich nach moderner Esoterik an – ist es auch. Obgleich es sich nur um eine Erleuchtung light handelt; mehr gibt das High-Tech Wellness-Set „Ljod“ nicht her, mit dessen Hilfe aufwühlende Erinnerungen aufsteigen, denen eine beglückende Ruhe folgt und das Bild einer großen Gemeinschaft, die sich im Licht auflöst.

Wir sind mittendrin in Ljod. Das Eis, dem jüngsten Roman des russischen Autors Vladimir Sorokin, aus dem er jetzt im Literaturhaus lesen wird. Der Einstieg ist weniger friedfertig: Da schlägt man zwei Männern mit voller Wucht einen Hammer aus Eis auf die Brust und beschwört sie mit den Worten „Gib Antwort!“ Während der eine stirbt, gibt der Jüngere einen Laut von sich, den die Misshandler entzückt zur Kenntnis nehmen. „Ural“, so scheint es aus dem Brustkorb zu tönen, und das soll ab jetzt der Name von Lapin sein, dem diese Prozedur widerfährt und der dann gesund gepflegt wird.

Lapin will zunächst nicht verstehen, was sich den LeserInnen allmählich offenbart: dass er zum „wahren Leben“ erweckt worden ist, dass sein Herz gesprochen hat und von nun an nur noch dessen Sprache, die der Liebe also, zählt; dass er zu einem geheimen Orden von Auserwählten gehört. Sie kommunizieren über ihre Herzen, und wer diese Erfahrung gemacht hat, dem erscheint sein bisheriges Leben leer. Der ist bereit zu glauben, aus kosmischem Licht zu kommen und sich in solches zurückzuverwandeln, wenn 23.000 Brüder und Schwestern gefunden sind. Rohstoff der Erleuchtung ist Eis, das ein 1908 niedergegangener Meteorit liefert.

Obskur ist das alles und absurd. Beide Attribute zeichnen Sorokins Bücher aus, der in Ljod Science-Fiction, Krimi-Elemente und New-Age-Propaganda mischt, gekonnt die Sprechweisen wechselt und sich auf verwirrende Weise der Parodie bedient. Das Ganze ist so irritierend, wie es spannend zu lesen ist. Irritierend auch das Nebeneinander emotionaler Fülle der Erweckten und ihrer Mitleidlosigkeit gegenüber denen, die für sie nur „taube Nüsse“ sind. Dies tritt besonders im zweiten Teil des Romans zu Tage, wenn Chram, eine alte Dame der Bewegung, in naivem Ton ihre und damit die Geschichte der Sekte erzählt. Anpassungsfähig nisten sich ihre Mitglieder während des Zweiten Weltkriegs in den Rängen der SS ebenso ein wie unter den verschiedenen Machthabern der Sowjetunion. Mit dem eingangs erwähnten Wellness-Set sind sie erfolgreich in der kapitalistischen Gegenwart Russlands angekommen.

Man kann Ljod als grausames Märchen über die Sehnsucht nach dem Absoluten lesen und über das ihr inhärente Umschlagen in Gewalt; den Roman als eine irrwitzige Parabel über die Strukturen des Totalitarismus deuten. Und Bezüge zur gesellschaftlich-politischen Gegenwart Russlands finden sich viele. Eindeutige Botschaften wird man hingegen vergebens suchen. Denen entzieht sich der Autor erzählerisch wie auch mit Behauptungen wie der, Ljod sei kein Buch über den Totalitarismus, sondern handle von der „Suche nach dem verlorenen seelischen Paradies“. Einem professionell schreibenden Provokateur kommt man am ehesten noch über die Lektüre auf die Spur. CAROLA EBELING

Vladimir Sorokin: Ljod. Das Eis. Berlin 2003, 350 S., 22 Euro Lesung: Do, 27.5., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38