Der gefakte Zensus-Fragebogen: "Das dürfen die"
Wahlverhalten, Drogenkonsum - was verraten Bürger, wenn sie glauben, die Volkszähler stehen vor der Tür? Ein Test zeigt, wie die Leute reagieren.
Seit Montag klopfen 80.000 Menschen an Türen in Deutschland. Sie dürfen sich für die erste gesamtdeutsche Volkszählung von zehn Prozent der Bürger Angaben einholen, etwa zu Religion, Weltanschauung oder zum Migrationshintergrund. Und es regt sich kaum Protest dagegen. Ganz anders als bei der letzten Volkszählung 1987. Offenbar gilt es heute in Deutschland nicht mehr als problematisch, beim Staat solche Daten anzugeben.
Wirklich? Wie bereitwillig würden uns die Leute Fragen beantworten, die der Staat nicht stellen sollte? Um das herauszufinden, haben wir einen Fragebogen gebastelt. Der beginnt mit Fragen, die tatsächlich von Zensus-Erhebungsbeauftragten gestellt werden, und geht über zu Fragen nach politischer Einstellung, Drogenkonsum und Geschlechtsverkehr. Wann werden die Leute misstrauisch? Verraten sie uns Dinge, die sie nicht einmal auf Facebook posten?
Unsere Namen haben wir mitsamt "Zensus"-Logo auf einem Fantasieausweis verewigt. T-Shirts mit dem Aufdruck "Erhebungsbeauftragte(r)" übergezogen und uns auf den Weg gemacht. In den Westteil Berlins, wo Studenten auf Fahrrädern neben Anzugträgern in Cabrios die Straßen entlangfahren. Als wir dann vor dem ersten Hauseingang stehen, wird uns mulmig. Zweifel kommen auf: Ist das, was wir hier vorhaben, ethisch korrekt? Darf man für eine Recherche lügen? Aber wie sollen wir anders herausfinden, wie die Leute reagieren?
Das passiert: Für den Zensus 2011 wurden bereits Daten aus staatlichen Registern zusammengeführt. Gestern hat die Phase begonnen, in der zehn Prozent aller Bundesbürger persönlich befragt werden - bis zum 31. Juli.
Das wird gefragt: Der offizielle Fragebogen, der auf der Internetseite zensus2011.de für jeden einsehbar ist, beinhaltet Fragen unter anderem zu Familienstand, Lebensgemeinschaften, Schulabschluss, Beruf und Migrationshintergrund. Nach Religionszugehörigkeit wird auch gefragt, die Frage kann aber abgelehnt werden.
Das haben wir gemacht: Zwei taz-Reporter klingelten an zufällig ausgewählten Berliner Haustüren, begehrten Einlass und stellten reale und fiktive Zensus-Fragen.
Beruf? Regisseur
Altbau, gepflegt, Kinderlachen. Ein Mädchen öffnet, lugt durch den Türspalt. "Ich hol Papa." Thorsten Müller* mustert uns, als er dazukommt, die Klinke in der Hand. Puls und Gedanken rasen. Er zeigt auf seine Uhr. "Zehn Minuten!"
Wir sitzen am Tisch. Blicken auf die Terrasse. Bestaunen die Dachschrägen. Die 170 Quadratmeter. Vorname, Name, Postleitzahl? Müller antwortet schnell. Telefonnummer? "Warum wollen Sie die wissen?" Für Nachfragen. Falls es noch Unklarheiten gibt. Er mustert uns wieder. Nennt seine Festnetznummer.
Glaubensrichtung? Christ. Beruf? Regisseur. Alles Fragen, die wir dem echten Fragebogen entnommen haben.
Einkommen? "Einkommen?" Einkommen. "Das gebe ich nicht an." Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet, behaupten wir. "Ja? Null Euro." Weiter. In seinem Tempo. Ja. Er stützt die Hand auf. Nein. Lehnt sich zurück. Ja. Lacht auf. Ein Auto, ja. Der Golf. Zigaretten, ja. Acht am Tag. Alkohol, ja. Fast täglich. Sollte der Staat Sterbehilfe erlauben? "Ja." Haben Sie eine Partnerin? "Nein." Weiter. Nicht nachdenken. Dann sagen wir es: Wie oft haben Sie Geschlechtsverkehr? Wir erklären nichts. Müller erklärt. "Ach, so werden diese Statistiken also erhoben!" Wir murmeln. Kichern. Murmeln. Dann sagt er es. Wir dachten, niemand würde darauf antworten. "Einmal im Monat."
Dreizehn Minuten.
Im Treppenflur löst sich die Anspannung nicht. Sie mischt sich mit Verwirrung. Darüber, dass sich die Anfangsskepsis des Interviewten verflüchtigt hat. Darüber, dass Einkommen und Telefonnummer nur zögerlich rausgerückt wurden. Informationen zum Sexualverhalten dagegen gleich.
Sabine Schmidt sagt, sie habe keine Zeit für ein Gespräch. Es würde gleich Besuch bekommen. Wir wollen schon gehen, da ruft ihr Mann im Hintergrund: "Zensus? Das ist in Ordnung. Das dürfen die." Kein Blick auf unsere Ausweise.
Schon mal illegale Drogen konsumiert? Ja.
"Ich bin hier der Chef, das ist schon mal klar", sagt der Mann mit Glatze. Er lehnt an der Wand, raucht eine Selbstgedrehte. Aber wir wollen sie. Die jetzt vor gerahmten Kinderfotos sitzt. Staatsangehörigkeit, Schulabschluss, Gehalt.
Sabine Schmidt antwortet so pflichtbewusst, als befände sie sich in einem Verhör: "Ich verdiene 2.200 Euro im Monat", "Wir haben vier Computer". "Ich rauche zwanzig Zigaretten pro Tag." Er mischt sich ein, inhaliert Tabak: "Was ihr alles wissen wollt." Versteht nicht, warum wir nach Medikamenten fragen. Streichelt dann den Kater.
Sind Sie für die Legalisierung von illegalen Drogen wie Marihuana?
"Ja."
Haben Sie schon einmal illegale Drogen konsumiert?
"Ja."
Welche?
"Cannabis."
Sind Sie für ein grundsätzliches Verbot von Abtreibungen?
"Nein."
Haben Sie schon einmal abgetrieben?
Der Kater streicht ihr um die Beine. "Ja."
Hans Lehmann ist anfangs recht skeptisch. Noch im Flur wundert er sich, dass wir uns nicht schriftlich angemeldet haben. "Da hat die Post wohl geschlampt." Reicht ihm dann als Erklärung. In der Wohnung liegen Klamotten herum, Kinderspielzeug ist verstreut, der Balkon mit Pflanzen zugestellt. Das ist ihm sichtlich peinlich. 47 ist er, Historiker und derzeit Doktorand.
Antworten im Stakkato
Auch er antwortet im Stakkato. Zentralheizung? Ja. Urlaub? Dreimal im Jahr. Regelmäßig Alkohol? Nein. Kinder? Zwei. "Und das ist jetzt kein Fake? Sie haben eine Ausweis?", fragt er, als wir wissen wollen, welche Partei er wählt. Ja, haben wir. Er nimmt das Stück Papier, schief laminiert und ohne Stempel, in die Hand. Mustert es, fährt sich durch die Haare, kneift die Augen zusammen, legt es zurück. "Warum wollen die Behörden wissen, wen ich wähle?" Die Wahlumfragen seien zu ungenau. Reicht ihm als Erklärung. Er wählt die Grünen.
Und wie ist es mit Geschlechtsverkehr? "Das ist nicht Ihr Ernst, oder? Sie verarschen mich nicht?" Doch, tun wir. Wir lösen unsere Tarnung auf, uns fällt kein Grund ein, weshalb der Staat sich für das Sexleben seiner Bürger interessieren sollte. Wir entschuldigen uns, er verzeiht schnell.
"Warum haben Sie trotz ihres Misstrauens so lange mitgemacht?"
"Ich bin ein höflicher Mensch, Sie waren freundlich und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich hätte besser informieren müssen."
"Warum, glauben Sie, regt sich kein Widerstand gegen die Volkszählung"
"Die Zeiten haben sich geändert, heute ist nicht mehr der Staat böse, sondern eher die Wirtschaft."
Sechsmal wurde uns die Tür geöffnet, zweimal wurden wir abgewiesen - nicht aus grundsätzlichen Zweifeln oder einer Antihaltung zur Volkszählung, sondern weil die beiden Frauen einfach keine Zeit hatten.
Jürgen Fischer lässt uns sofort in seine Singlewohnung. Auf dem Balkon ist der Tisch gedeckt, Kuchen steht bereit, es riecht nach Kaffee. "Ich erwarte Gäste, die können jederzeit kommen." Eigentlich passe es gerade nicht.
Mehr reden, als der Fragebogen erwartet
Er redet viel. Mehr als unser Fragebogen erwartet. Wir erfahren, dass er sich gerade als Ausbilder für Radiosprecher selbstständig gemacht hat, dass er Arbeitslosengeld beantragt hat, "weil es noch nicht läuft." Er sagt, die NPD müsse verboten werden, Westerwelle sei "scheiße", er wähle die Grünen. "Selbst wenn die Spitze dort auch übel ist." Seine Gäste sind da, warten auf der Terrasse. Wir lassen ihn ausreden. Rauben ihm seine Zeit.
Ob er für die Legalisierung von Drogen ist?
Seine Freunde nehmen alles Mögliche, erzählt er. Einfach so. Crystal, Koks. "Ich habe 1993 einmal eine halbe Ecstasy-Pille eingeworfen, außer ein Gefühl der Leichtigkeit hab ich aber nichts gemerkt." Er hatte eine Chemotherapie, will aber nicht, dass wir Details zur Nachbehandlung aufschreiben. "Das verweigere ich, da soll die Behörde ruhig anrufen, wenn Sie ein Problem damit hat." Im Schnitt hat er 50-mal jährlich Geschlechtsverkehr. Und ja, er hatte schon Sex mit Männern.
Er hat uns alle Fragen beantwortet. Warum, fragen wir, als wir uns als Journalisten zu erkennen geben. "Diese Staatshörigkeit, das Duckmäusertum, ist in den Deutschen wohl so drin. Ich bin vielleicht auch zu gutgläubig." Damals, 1987, sei das noch anders gewesen. Tausende seien gegen die Volkszählung auf die Straße gegangen. Und jetzt? "Heute zucken sie mit den Schultern."
* Alle Namen von der Redaktion geändert
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