: Der falsche Nikodem vom Knast in Tegel
■ Die Justiz und ihr doppeltes Lottchen: Marek S. tauscht sich im Tegeler Knast mit seinem Bruder aus / Vollzugsbeamte spielten mit falschem Knacki Tischtennis
Moabit. Als Marek S. aufflog, saß er schon zwei Monate im Tegeler Knast. Völlig unschuldig - und völlig freiwillig. Im Februar bemerkte ein Kriminalbeamter bei einer geplanten Vernehmung - da aber „auf Anhieb“ -, daß er es nicht mit dem richtigen Mann zu tun hatte. Der „richtige“ hatte den Knast bereits im Dezember letzten Jahres verlassen: Marek S. blieb nach einem Besuch anstelle seines Bruders Nikodem S., der wegen Autodiebstahls und „Erschleichung“ der deutschen Staatsangehörigkeit noch einige Monate hätte sitzen sollen.
Einem Moabiter Schöffengericht berichtete der 32jährige polnische Landwirt Marek gestern, daß Nikodem damals nicht mehr gewußt habe, was er mit sich „anfangen“ solle und Selbstmord begehen wolle. Er hatte im Juli schon einmal im Knast einen Suizid versucht.
„Ich habe mich entschieden reinzugehen“, sagte Marek gestern auf der Anklagebank bedrückt. Sein Bruder habe ihm auf einen Zettel geschrieben, wie er sich in den ersten Tagen im Knast verhalten solle. Nikodem setzte Marek seine Mütze auf, und die Vollzugsbediensteten ließen sich in dem Besucherraum mit den 15 Tischen leimen. Nikodem fuhr in seine polnische Heimat und ist - bis heute jedenfalls - ein freier Mann.
Der Ersatzgefangene wollte solange in Tegel bleiben, „bis ich erkannt werde“. Nach zwei Wochen wurde endlich ein Vollzugsbeamter skeptisch, ließ sich aber weiterhin von dem falschen Nikodem hinters Licht führen. Der erklärte nämlich, daß er sich verändert habe, weil es ihm nicht gut gehe. Andere Beamte sollen sogar mit dem Austausch-Bruder Tischtennis gespielt haben, ohne etwas zu merken.
Nur ein polnischer Häftling erkannte nach einer Woche, daß Marek nicht Nikodem war. Doch dem 37jährigen Schlosser war der Tausch „egal“. Nur dem Staatsanwalt nicht. Er setzte Tadeusz Z. neben Marek S. auf die Anklagebank und warf ihm vor, dem geholfen zu haben, sich im Knast zurechtzufinden. Doch Tadeusz streitet die unterstellte Hilfe ab, und der Staatsanwalt konnte offenbar auch niemanden finden, der das Gegenteil bezeugen könnte. Als Nikodem noch im Gefängnis seine Strafe büßte, war gegen ihn ein neuer Haftbefehl wegen weiteren Autoverschiebereien in Arbeit. Der Kriminalbeamte, der die Verwechslung der Brüder bemerkte, sagte gestern aus, daß in diesem Jahr „ein ungeheurer Boom“ an Autodiebstählen zu verzeichnen sei. Monatlich würden bis zu 150 Autos nach der „Tankdeckelmethode“ in Berlin gestohlen. Bei manchen Fahrzeugen passen Nachschlüssel von Tankdeckeln auch in die Tür und Zündschlösser.
Dirk Wildt
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