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Archiv-Artikel

Der Wind erst danach

Das Neujahrskonzert in der Volksbühne ist nicht nur Tradition, sondern auch die erste zweite Chance des Jahres. Gustav aus Wien und To Rococo Rot aus Berlin/Düsseldorf nutzten sie wie das Publikum: ganz in Ruhe und in freundlicher Bescheidenheit

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Das Neujahrskonzert in der Volksbühne ist schon eine der besseren Berliner Traditionen zum Jahreswechsel. Wer gedemütigt vom Weihnachtsfest im Kreis der Familie zurück nach Berlin kommt und an Silvester sich und der Welt beweisen will, in der richtigen Stadt zu sein, in diesem Vorhaben aber scheitert, womöglich auf falschen Partys landet und um Mitternacht mit hässlich knutschenden Pärchen in einem Neuköllner Hinterhof oder an einer von blöden Touristen überlaufenen Ecke in Prenzlauer Berg steht, der hat am 1. Januar noch eine zweite Chance, irgendwie würdig ins neue Jahr zu kommen.

Denn ein Naturgesetz des Veranstaltungswesens sagt, dass die Neujahrskonzerte der Volksbühne immer ausverkauft und sehr gut sind. In den Neunzigern trat Bernd Begemann regelmäßig hier auf, Funny van Dannen sang stundenlang seine schönsten Lieder, es gab große Neujahrsgalas mit vielen Mitwirkenden wie Jim Avignon, Dirk von Lowtzow, Komëit und der Harzjodlerin Doreen, aber auch sehr schöne, lakonische Konzerte, wie 2005, als Tocotronic ihre neue Platte vorspielten. Kante und Die Sterne waren da, letztes Jahr tauchten die Throbbing-Gristle-Fans das Haus in Schwarz.

Aber eigentlich kommt es bei dem Neujahrskonzert gar nicht so drauf an, wer spielt. Es ist, wie so oft in der Volksbühne, ein gesellschaftlicher Anlass. Wo sonst kann man in halbwegs gediegener Atmosphäre Gänge entlangwandeln, hie und da stehen bleiben und so lange die Kunst der leichten Konversation pflegen, bis sich das nächste konzertant untermalte Entspannungsschweigen im großen Saal aufdrängt? Die Volksbühne ersetzt sowohl den Boulevard als auch die alte Tradition des Kirchgangs mit anschließendem Frühschoppen am Neujahrstag. Seltsamer-, vielleicht aber auch natürlicherweise überträgt der Einzelne an so einem 1. Januar den eigenen körperlich-geistigen Zustand gerne auf die Menschen der Umgebung. Nach einer wenig ausschweifenden Silvesternacht wirken dann die anderen Konzertbesucher ganz manierlich und ausgeruht, nach einem eher wüsten Gelage aber projiziert der geschundene Kopf die eigene Unzulänglichkeit und den Grad der Verstrahlung.

Dieses Jahr stand zuerst die Wiener Elektronikerin Gustav allein auf der großen dunklen Bühne, bediente die Geräte und sang – manchmal hell und süßlich, dann wieder schneidend und schnarrend, fast wie die Schauspielerinnen auf den ersten Aufnahmen der „Dreigroschenoper“. Es war toll, wie sie so ganz allein von der Bühne aus den Saal in der Hand hatte. Sie spielte fast nur Stücke von ihrem neuen Album, das noch dieses Jahr bei Chicks on Speed Records erscheinen soll und das, wenn der erste Höreindruck nicht täuscht, poppiger wird als ihr erstes. Von dem spielte sie ganz zum Schluss noch ihren kleinen Hit „Rettet die Wale“.

Das Publikum hing ganz begeistert und wohlwollend in den Sitzen oder drängte sich im übervollen Saal bescheiden auf den Treppenstufen. So saß man im schönen Dunkel, und das Basswummern passte sich ganz angenehm dem Dröhnen im Schädel an. Auch To Rococo Rot spielten neuere Stücke. Es ging viel um Kollaborationen mit Architekten und Filmemachern, da wurden ganze Hochhäuser vertont und Soundtracks zu Modulen performt. Auch wer der elektronischen Musik mit ihrem berühmten „Sirren“, „Rattern“, „Knurpseln“, „Knistern“ und „Blubbern“ an sich eher gleichgültig gegenübersteht, konnte dieses Konzert sehr genießen, das mit seinen meditativen Momenten und der manchmal etwas hinkonstruierten Improvisation auch etwas angenehm Anachronistisches hatte.

Und so ging dieser erste Abend 2007 in harmonischer Ermattung zu Ende. Das junge, vorwiegend studentische Publikum schlurfte dem Ausgang zu, die Kräftigeren nahmen anschließend den Weg nach oben zur Aftershowparty im Grünen Salon, die Müden trotteten hinaus auf den leeren Rosa-Luxemburg-Platz, wo in dieser ersten Nacht des neuen Jahres dann plötzlich doch ein überraschend schneidend scharfer Wind wehte.