piwik no script img

■ Der Wehner-Film im deutschen Fernsehen – ein EreignisDie kommunistische Welt

Die Tür zum improvisierten Tanzsaal steht halb offen, Mitglieder des Politbüros der KPD sehen von einem Séparée aus den Tanzenden zu, man hört die sanfte, traurige Stimme Edith Piafs. Moskau, Hotel Lux, Winter 1937. Ein Funktionär berichtet, Frauen verhafteter deutscher Kommunisten drohten, sich aus dem Fenster des Moskauer Verbindungsbüros der KPD zu stürzen. Sie schreien den Funktionären ins Gesicht: „Warum werden die einfachen Genossen verhaftet, während ihr weiter frei herumlauft?“ Wehner schweigt, Pieck schweigt.

Dem Regisseur Heinrich Breloer sind im zweiten Teil seines Wehner-Films Augenblicke von unerhörter Dichte und Genauigkeit gelungen. Dabei verdanken sich die Dialoge der gestellten Szenen nicht der Einbildungskraft des Autors – sie sind fast wörtlich der Wehner-Akte entnommen. Aber mehr noch als die Spielszenen aus dem Hotel Lux, dem ersten Kreis der Hölle, erschüttert uns, wie Ruth von Mayenburg, die ehemalige kommunistische Kämpferin, auf ihre erste Wiederbegegnung mit der Hauptstadt der Leiden reagiert. Furcht und Zittern noch nach 55 Jahren beim Besuch des Hotels Lux, entsetzte Sprachlosigkeit angesichts der Konfrontation mit den jetzt aufgefundenen Wehner-Dokumenten.

Mit Zurückhaltung und Zartheit behandelt der Regisseur die beiden überlebenden Lebensgefährtinnen Wehners, Lotte Loebinger und Charlotte Treuber. Weit davon entfernt, nur die humane Staffage für eine Geschichte von äußerster Brutalität abzugeben, erschließen uns die Interviews mit diesen beiden Frauen ein untergegangenes Universum: die Welt der großen Hoffnung und der bedingungslosen Hingabe. Sie war auch Wehners Welt. „Geht nach Deutschland zurück, es ist besser, von der Hand der Feinde zu sterben als von der der Freunde.“ Der Rat des NKWD-Offiziers an die Frauen der Verhafteten wird in Breloers Film ohne jeden Anflug von Zynismus gegeben. Der Tod in den Folterkammern der Ljubljanka ist sinnlos, der Tod in Hitlers KZ wird erlitten um des antifaschistischen Widerstands willen, im Glauben an den endlichen Sieg der gerechten Sache. Nach 1945 wird die radikale Linke die sinnlosen Tode leugnen, um am großen „Sinn“ festhalten zu können. Sie wird das „Satscho?“, das „Warum?“ der in die Gulags Verbannten verdrängen. Das Andenken an die Antifaschisten soll rein sein und unbefleckt. Aber gab es denn eine so säuberliche Trennung von unschuldigen Opfern und schuldbeladenen Tätern, wie die Sehnsucht nach klaren geschichtlichen Fronten uns drängt zu glauben? Es gab sie nirgendwo, selbst im illegalen Buchenwald-Komitee nicht. Jorge Semprun hat es uns in „Was für ein schöner Sonntag“ nachgewiesen.

Man hätte sich in Breloers Film eine Schlußpassage gewünscht, in der Wehner, von der Sicherheit des schwedischen Gefängnisses aus, vergeblich versucht, Ordnung in sein bisheriges Leben zu bringen. Er ist mit sich selbst nie ins reine gekommen, das Gaus-Interview von 1964 belegt es. Uns, den glücklicheren Nachgeborenen, fällt so ein Urteil leicht. Aber wie würden wir agieren, wenn unsere Biedermeier-Welt zusammenbräche samt unserem inneren Maß, unseren wohltemperierten Leidenschaften und unseren domestizierten Hoffnungen? Christian Semler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen