Der VS war für die Stasi ein offenes Buch

■ Die Hauptverwaltung Aufklärung überwachte den Verfassungsschutz / VS vernachlässigte das kleine Einmaleins der Sicherheit / Personenhinweiskartei: Vertuschung perfekt / Auflösungsprozeß mit Fehlern / Der BND war bei der Stürmung der Stasi-Zentrale mit dabei

Berlin (taz) - Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in Berlin wußte einiges - einiges mehr sogar, als westdeutsche Geheimdienstler jemals zu glauben wagten. Der Auslandsnachrichtendienst des MfS, die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), bespitzelte jahrelang die höchste Regierungsebene in Bonn. Wenn Kanzlerberater Teltschik zum Telefon griff oder die Bundesregierung ein vertrauliches U -Boot-Geschäft mit Israel einfädelte: die HVA protokollierte mit. Wenig blieb ihr, die von der Berliner Zentrale in der Normannenstraße gesteuert wurde, verborgen.

In der HVA stapelten sich aber nicht nur Protokolle, in denen beispielsweise die Bonner Reaktionen auf Gorbatschows Abrüstungsvorschläge und die verfehlte Pressepolitik des Verteidigungsministeriums festgehalten wurden, selbst über den Verfassungschutz wurde preußisch ordentlich Buch geführt. Der Aufbau, die Strukturen, beinahe vollständige Namenslisten und Berichte über die Aktionen der bundesdeutschen Verfassungsschützer gelangten via MfS an die Staats- und Parteiführung.

Seit November letzten Jahres wissen die Kölner Spionageexperten, daß mit ihnen geschah, was einem Geheimdienst eigentlich nicht geschehen dürfte. Nach der Öffnung der Mauer berichteten Überläufer des MfS, daß fast jedes der geheimen Telefonate zwischen den Landesämtern oder zur Kölner VS-Zentrale überwacht wurde.

Der HVA waren nicht nur fast alle Namen der etwa 5.000 Mitarbeiter bekannt. Mit eigenen Reisekadern, die den „Abteilungen XV“ in den Bezirksverwaltungen des MfS unterstellt waren, ließ die HVA in der Bundesrepublik sogar vor Ort die Aktivitäten des Verfassungsschutzes überwachen, wenn es ihr wünschenswert und interessant erschien. Die genauen Daten lieferte die telefonische Überwachung.

Und der VS machte es den DDR-Kollegen auch noch leicht: Entgegen dem kleinen Einmaleins der Geheimdienstpraktiken wurden Nachrichten unter den Ämter ohne jede Verschlüsselung ausgetauscht. Die VS-Überwacher, allesamt DDR-Bürger mit oder ohne gefälschte Ausweise, konnten so von ihren Vorgesetztzen optimal eingesetzt werden. „Die Observationstrupps waren spitze“, räumt heute ein Mitarbeiter des Kölner Bundesamts ein, „die haben über uns gelacht“.

Das Rennen um das deutsch-deutsche Bespitzelungsunwesen ging eindeutig zugunsten der DDR-Geheimen aus. Zuletzt kolportierte das auch DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel (DSU) am Rande des Treffens der Innenministerkonferenz. Auf die Nachfrage von Journalisten, ob die Zeiten der innerdeutschen Spitzeleien endgültig vorbei wären, antwortete er mit einem prinzipiellen Ja. Mit Blick auf die in den letzten Monaten betriebenen Aktionen des Bundesnachrichtendienstes (BND) in der DDR schlug er als Gentlemen's Agreement vor, der Bonner Innenminister möge seine zwei Reinigungskräfte in Ost-Berlin zurückziehen - im Gegenzug könne sein Ministerium dann fünf Staatssekretäre in Bonn stillegen. Die Pressekampagne der westdeutschen Sicherheitsbehörden, die Anfang März des Jahres immer wieder von weiteren Aktivitäten der HVA und der fortdauernden Überwachung der Telefonate auf den Richtfunkstrecken sprachen, erscheint heute eher als der Versuch, von der eigenen Schlappe abzulenken.

Die „Hauptverwaltung Aufklärung“ ist heute weitgehend aufgelöst. Die Anzahl der Mitarbeiter in der HVA wurde auf 250 reduziert. Ihre Aufgabe ist es, die Demontage des Nachrichtendienst bis Ende Juni 1990 abgeschlossen zu haben.

Die Reste des Spionagedienstes wurden aus der Berliner Zentrale im Bezirk Lichtenberg ausgelagert. Das ebenfalls von der HVA genutzte „Objekt Hoppegarten“ und das „Schutzobjekt Gosen“ wurden am 20. Februar beziehungsweise 15. März geräumt. Das Überbleibsel des Spionageimperiums, das der HVA-General Markus Wolf seit den 50er Jahren aufgebaut hatte, residiert nun in der Rödernstraße 30 am Berliner Stadtrand in unmittelbarer Nähe zu den sowjetischen Militäreinrichtungen in Karlshorst, die auch den KGB beherbergen. Fern der Kontrolle von Bürgerkomitees und Kirche sind übriggebliebenen Geheimdienstler hier unter sich.

Nachdem der frühere HVA-Leiter Generalleutnant Werner Großmann von der Öffentlichkeit unbemerkt gefeuert wurde, ist Generalmajor Gothold Schramm (bis 1959 persönlicher Referent von Markus Wolf) zum Nachfolger geworden. Als Oberst wurde der 1928 geborene Schramm ab 1979 der Leiter der Abteilung 9 „Gegnerische Dienste“.

Grundlage für den Umzug und die weitere Auflösung der HVA ist ein geheimer Beschluß vom Februar des früheren Regierungsbeauftragten zur Auflösung des MfS, Generaloberst Peter. Festgelegt wurde darin, daß „das zur Auflösung nötige Schriftgut zum Quellenschutz“, die persönlichen Arbeitsunterlagen und die Bürotechnik in die Rödernstraße verbracht werden sollte. Unter Punkt vier des Beschlusses wurde geregelt: „Die noch in der Zentralkartei der Abteilung XII (dort wurde die Zentralkartei des MfS verwaltet; d. Red.) befindlichen Zweitkarten F16 der Hauptverwaltung Aufklärung werden heraussortiert und unverzüglich in der Abteilung XII vernichtet.“

Die Kartei F16 ist die Schlüsseldatei, mit der sich der Zugang zu den sechs Millionen Datensätzen über DDR-Bürger und zwei Millionen Akten über BRD-Bürger erschließen läßt. Hinter dem Beriff „Zweitkarten F16“ steht der Versuch der HVA, sich bei der Auflösung des MfS diese Datensätze zu sichern. Im Auftrag der HVA wurden bereits bis zum 28. Dezember letzten Jahres alle Datensätze der F16 auf Mikrofilm gezogen. Neben der F16 wurden auch die Sachkarteien F22 (aktive Fälle) und F22a (aktive und abgeschlossene Fälle) kopiert. Für die Bürgerkomitees gilt diese Verfilmung der Orginalkartei als Beleg dafür, daß die zu Zeiten von Egon Krenz diskutierte Aufteilung des MfS in einen noch zu gründenden Verfassungsschutz und in einen Auslandsnachrichtendienst von Anfang an unterlaufen werden sollte. Wozu sonst, fragen sie, hätte eine HVA -Nachfolgebehörde die kompletten Datensätze über die bespitzelten DDR-Bürger gebraucht.

Bei der Vernichtung dieser Duplikate werden von den Bürgerkomitees auch andere Unstimmigkeiten moniert. Seit Wochen ist bekannt, daß die in der Normannenstraße vorgefundene Hauptkartei nicht mehr vollständig ist. So hätte sich in der F-16-Kartei beispielsweise ein Hinweis auf den heutigen Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere finden müssen. Schließlich waren alle der rund 600 Rechtsanwälte im SED-Staat mit der Stasi in Kontakt gekommen. Das hat de Maiziere auch eingeräumt.

Nachdem die HVA die Orginalkartei bereits im September und damit lange vor der Erstürmung der Stasi-Zentrale am 15. Januar - verfilmen ließ, galten die Duplikate als der einzige vollständige Aktensatz. Ungeklärt bleibt heute, warum die Mikrofilmkartei, bei der jede Manipulation erkennbar gewesen wäre, und nicht die unvollständige Papierkartei vernichtet wurde. Bei der Vernichtung am 6. April in der Rödernstraße trugen die Mikrofilme sogar noch die Originalsiegel mit der Nummer „1241“.

Das Mißtrauen der Bürgerkomitees wurde weiter geschürt, nachdem der Leiter des staatlichen Auflösungskomitees, Günther Eichborn, den Bürgerinitiativen am 23. März den Zugang zu den Aktenräumen verwehren wollte. Unter Bezugnahme auf die Vorfälle in Erfurt - dort waren aus den Kreisen der Komitees Gerüchte aufgekommen, daß auch über DSU-Chef Ebeling und CDU -Generalssekretär Kirchner belastendes Material gefunden worden wäre - hatte Eichhorn per Beschluß die Türen zu den Aktenschränken sperren lassen. Nach Protesten der Bürgerkomitees mußte Eichhorn zwar noch am selben Tag den Beschluß zurücknehmen. Die Folge aber blieb, daß über fünf Stunden nur ehemalige MfS-Mitarbeiter in den Archiven der Stasi zugange waren.

Moskau-Connection?

Völlig ungeklärt bleibt derzeit auch, ob es die HVA -Spezialisten bei der Anfertigung nur eines Duplikates beließen. In den vergangenen Wochen wurde wiederholt von vermeintlichen Versuchen des sowjetischen KGB berichtet, der Teile des DDR-Nachrichtendienstes und des Agentennetztes übernehmen wolle. Das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz behauptet gesicherte Erkenntnisse zu haben, die eine Übernahme sowohl von Personal als auch von Akten und Filmen der früheren HVA durch den sowjetischen Geheimdienst KGB belegen. Möglicherweise lagert die einzig vollständige MfS -Kartei beim sowjetischen Geheimdienst am Berliner Stadtrand in Karlshorst.

Interesse an den Dokumenten der Stasi zeigte aber auch der Bundesnachrichtendienst in Pullach. Eine Arbeitsgruppe, die vom Leiter der staatlichen Auflösungskommission Heinz Engelhardt eingesetzt wurde, kam jüngst zu einem überraschenden Ergebnis. Danach waren bei der Erstürmung des Stasi-Hauptquartiers am 15. Januar nicht nur aufgebrachte DDR-Bürger am Werke. Die Kommissionsmitarbeiter zogen den Schluß, daß der „Sturm mit Phantasie“ entweder von vornherein in den Büros ausländischer Nachrichtendienste organisiert oder zumindest als günstige Gelegenheit genutzt wurde. Als Beleg wird im internen Kommissionsreport gewertet, daß ein Teil der Eindringlinge offenbar genau wußte, wo nach Akten zu suchen war. Das Interesse galt den Häusern 2 und 6 im riesigen Komplex an der Normannenstraße dort residierte die Hauptabteilung II (Spionageabwehr) und die „Arbeitsgruppe Ausländer“ (AGA).

Fest steht mittlerweile auch, daß die Stürmer Unterstützung von Stasi-Mitarbeitern hatten. So wurden am Abend des 15. Januar die Tore zur Geheimdienstburg von innen geöffnet, Fensterscheiben gingen zu Bruch - lange bevor ein einziger der Demonstranten das Areal betreten hatte. Die Information, wo was zu finden sei, soll der Überläufer und frühere Leiter der Spionageabwehr, Rainer Wiegand, geliefert haben. Wiegand war es auch, der noch am 11. April im westdeutschen Fernsehen die kryptische Behauptung aufstellte, daß die konspirative Arbeit der HVA ungebrochen weitergehe. Überläufer Wiegand wird bei den BND-Experten offensichtlich als gern konsultierter Kollege geführt. Ihr besonderes Interesse: seine Tätigkeit als Abwehroffizier im Bereich lybischer und arabischer Spionage.

David Crawford/Wolfgang Gast