: Der Tresen als Heimat und Hürde
Ein Kneipenroman, der zugleich ein Entwicklungsroman ist: J. R. Moehringer erzählt in „Tender Bar“ von ersatzväterlichen Schnapshelden und dem Weg zu sich
VON SUSANNE MESSMER
Die Kneipe, ein Mikrokosmos, in dem sich die Welt spiegelt. Ein Ort für Einsame und Liegengebliebene, für Trinker, Spieler, für Schweiger und Schwätzer, für verlorene Männlichkeit und temporäre Erleuchtung, ein Nest der Nachsicht und der Nächstenliebe in unserer monadischen Welt.
Das Schwierige an Geschichten aus der Kneipe ist nur, sie zu einem Großen und Ganzen, einem dicken Buch zu fügen. So oder so ähnlich wird es auch der amerikanische Journalist J. R. Moehringer empfunden haben, als er begann, für seinen Debütroman „Tender Bar“ zu recherchieren, und als er sich entschied, nicht nur den Roman einer Kneipe zu schreiben, sondern den Roman der eigenen Entwicklung, einen klassischen, passgenau an der eigenen Autobiografie entlanggehäkelten Bildungsroman, der im amerikanischen Original auch ganz richtig mit „Memoiren“ untertitelt ist und nicht, wie in der deutschen Übersetzung, mit „Roman“.
So ist man anfangs mehr als dankbar: Kneipenromane gibt es schließlich auch in der deutschen Literatur ein paar nette – man denke an Sven Regener, Frank Schulz und Frank Goosen –, während man von zeitgemäßen Entwicklungsromanen nicht gerade erschlagen wird. Man stürzt sich hinein in das Leben des J. R. Moehringer und genießt die originelle Beschreibung der schrulligen Familienhintergründe, die dauerängstliche Oma, den unbehaarten Onkel oder den barschen Opa, der sein verlottertes Haus „Scheißhaus“ nennt und seine verschüchterte Frau „dumme Frau“, der „beträchtliche Aktien- und Anleihen-Portfolios“ besitzt und trotzdem seine Familie mit verkochten Nudeln abspeist, der ein „erstaunliches Vokabular beherrscht“, seine Familie aber nicht „an seinen intellektuellen Fähigkeiten teilhaben lässt“.
Es sind schlimme Familienverhältnisse, in denen J. R. Moehringer aufwachsen musste. Dieser Erzähler ist ganz und gar Kind einer schwer schuftenden, alleinerziehenden Mutter, die keine Sicherheiten besitzt außer der, niemals auf einen grünen Zweig zu kommen. Er kann also gar nicht anders als übersensibel und kummervoll werden. Man fühlt sich an manche Vertreter der Generation der um 1940 Geborenen erinnert, an die Kinder der vaterlosen Nachkriegsgesellschaft, eine Generation von Zartbesaiteten, die der soziale Aufstieg viel gekostet hat – dies mag übrigens neben dem Kneipenthema ein weiterer Grund sein, warum es „Tender Bar“ bei uns gerade so weit nach oben in die Bestsellerlisten schafft.
Er hat recht, der deutsche Bücherkäufer, freut man sich. Trotz der allbekannten Trinksprüche und Tresenweisheiten, die sich wahrscheinlich in den Bars und Tavernen weltweit kaum unterscheiden, mutet es durchaus fortschrittlich an, dass sich der Junge ausgerechnet in der Kneipe im heimatlichen Provinznest kurz vor New York, die erst „Dickens“ heißt und dann „Publicans“, im abgrundtief sympathischen Saufclan ein ersatzväterliches Sozialgefüge zurechtbasteln kann. Schön, dass es nicht mehr wie so oft in der amerikanischen Literatur um den Untergang der bürgerlichen Familie geht, sondern dass ein Schritt weiter angesetzt wird, und zwar nach der Fragmentierung. Nirgends ist sie kochfester als hier, die Macht der feinen Unterschiede, in diesem Land der Tellerwäscher. Die Mutter wird immer müder, und der Sohn hat es noch lang nicht geschafft, nur weil er in Yale studieren darf. Er wird noch schwer mit seinen Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen haben, die ihm wie ein Kainsmal auf die Stirn geschrieben sind – und je schwerer es wird, desto öfter sucht er Zuflucht in der Kneipe.
Eine Veränderung aber zieht er doch nach sich, dieser zähe Aufbruch: J. R. Moehringer entfernt sich von der kauzigen Familie, sein Erzähler entwickelt sich vom Zögling der Kneipenclique zum ernst zu nehmenden Kumpan. Onkel, Opa und Oma treten zurück, dafür werden Cager, der Vietnamveteran, Bob the Cop und der tragische Steve immer wichtiger, der Betreiber des immer vollen „Publicans“, der es nicht auf sich beruhen lassen kann und an seinen Expansionsversuchen zerbricht. Anstatt sich mal vom Tresen nach Hause schleppen zu lassen, sich auf diese vielversprechenden Schnapshelden einzulassen wie zuvor auf die Familie, verkommen sie immer mehr zu Sprüche klopfenden Stolpersteinen, die der erwartungsgemäßen Entwicklung des J. R. Moehringer im Wege stehen.
Immer mehr langweilt die einsträngige Erzählweise des Buchs, immer öfter stößt man sich an Abziehbildchen wie der schönen bürgerlichen Ziege, deren Hobby es ist, Arbeiterkindern das Herz zu brechen, oder den pünktlichen Tränen des Sohnes, „die kamen wie ein Sturzbach“, als er am Grabe des Vaters steht, den er nie hatte. Und am Ende ärgert man sich über das, was anfangs amüsierte. Man wünscht sich plötzlich doch, J. R. Moehringer hätte das Genre des Kneipenromans und seine Figuren ernster genommen. Vielleicht hätte er dann mehr erzählt als nur die Geschichte von sich: die Geschichte eines Pulitzerpreisträgers, der sich das Saufen abgewöhnen und aus seiner Katharsis einen Bestseller gewinnen konnte.
J. R. Moehringer: „Tender Bar“. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007, 459 S., 19,90 Euro