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Archiv-Artikel

Der Traum vom Süden

Heute beschließen die Parteitage von CDU und SPD die große Koalition in Schleswig-Holstein. Es droht Stagnation, auch der Nordstaat ist fürs Erste vom Tisch. Die Industrie- und Handelskammer Kiel träumt dennoch vom Anschluss an Hamburg – das Zauberwort heißt „Entwicklungsachsen“

Der Vorschlag

Noch bevor der Koalitionsvertrag vorlag, stürmte die Industrie- und Handelskammer (IHK) Kiel mit einem Vorschlag zur Kommunalreform vor. Tenor: Die Musik spielt in Hamburg, da wollen wir hin.

In einem Papier, dass auf ihrer Internetseite veröffentlicht ist, beschreibt die IHK mehrere Modelle. Das erste zeigt einen „Kragenkreis“ direkt um Hamburg herum, gefolgt von einem „Gürtel“. Allerdings bleibt jenseits der Gürtellinie noch einiges von Schleswig-Holstein übrig, und diese Region wäre – da ohne Zugang zur Metropole – der Verlierer. Von „sehr geringen Entwicklungschancen“ spricht die IHK und schließt dieses Modell darum aus. Auch ein weiteres Modell, das von den wirtschaftlichen Zentren des Landes ausgeht, fällt nach kurzer Überlegung hinten runter: Denn als Zentren macht die Kammer nur Lübeck und Kiel aus, und deren wirtschaftliche Strahlungskraft ins platte Umland kollidiert teilweise mit dem Sog aus Hamburg.

Also schauten die Leute von der IHK noch mal ganz angestrengt auf die Landkarte und fanden heraus, dass es mehrere Straßen gibt, die Hamburg mit Schleswig-Holstein verbinden. Da wäre die Autobahn 7, die auf Höhe von Bordesholm einen Ableger nach Kiel bildet. Und es gibt die A 23, die immerhin bis Heide führt. Eine weitere Straße geht Richtung Osten, durch den Kreis Ostholstein nach Lübeck und weiter nach Fehmarn.

Entlang dieser Routen, im IHK-Modell „Entwicklungsachsen“ genannt, entwickelt die Kieler Kammer ein Modell aus vier Regionalkreisen, die alle per Straße Zugang nach Hamburg haben. Zusammengefasst werden sollten nach diesem Vorschlag 1. Dithmarschen, Pinneberg und Steinburg, 2. Bad Segeberg, Kiel, Neumünster, Plön und Rendsburg-Eckernförde, 3. das Herzogtum Lauenburg, Lübeck, Ostholstein und Storman sowie 4. Nordfriesland und Schleswig-Flensburg mit der Stadt Flensburg.

Die von Hamburg ausgehenden wirtschaftlichen Impulse könnten weit ins Land hineingetragen werden, hofft die IHK, deren Präsident Heinrich Driftmann gleichzeitig Chef des Unternehmensverbandes Nord ist. „Das Konzept der Entwicklungsachsen nimmt die wirtschaftlichen Impulse aus Hamburg auf und verbindet sie mit der eigenen wirtschaftlichen Kraft Schleswig-Holsteins“, heißt es in dem Papier, das den Koalitionspartnern zugesteckt wurde.

Nur der hohe Norden um Schleswig-Flensburg herum hätte immer noch keinen Zugang zu Hamburg, seine Entwicklungsachse wäre nur eine Abzweigung der Achse Hamburg-Kiel. Vor der Geographie muss sogar die Industrie- und Handelskammer Kiel kapitulieren.

Die Chancen

Schleswig-Holstein. Unendliche Weiden. Fünf Jahre lang hat die schwarz-rote Koalition Zeit, die kommunalen Strukturen neu zu organisieren. Es geht um das Zusammenspiel der Verwaltungsebenen vom dörflichen Gemeinderat über Ämter- und Kreisverwaltungen bis zu den Ministerien. Und es geht darum, ob und wie das klamme Bundesland enger ans reiche Hamburg rücken könnte. Wer diese Themen anpackt, dringt in Bereiche vor, in die die Landespolitik noch nie ein Fuß zu setzen wagte.

Und das aus gutem Grund: Die Dithmarscher und Angeliter, Nordfriesen und Steinburger, Ostholsteiner und Schleswiger beharren stolz auf ihrer Eigenständig im eigenen Kreis und in der eigenen Gemeinde. Seit Jahren schwelt die Debatte um eine große Kommunalreform auf kleiner Flamme, weil niemand sich so recht an die Frage rantraute.

Das Bündnis aus SPD, Grünen und SSW hatte sich auf eine Reform geeinigt, wobei die Details umstritten blieben: Während der SPD fünf Regionalkreise sowie Kiel und Lübeck als kreisfreie Städte vorschwebten, favorisierte der SSW Großgemeinden nach dem dänischem Vorbild. Bekanntlich schafften die drei Partner dann nicht einmal die Regierungsbildung.

Was trauen sich die Schwarz-Roten? Der Koalitionsvertrag bleibt in diesem Punkt ein wenig schwammig. „Freiwilligkeit“ lautet das beruhigende Wort: Die ehrenamtliche Selbstverwaltung in den Gemeinden soll erhalten bleiben, erzwungene Zusammenschlüsse soll es nicht geben. Aber gleichzeitig heißt es, dass Ämter für 8000 bis 9000 Einwohner entstehen sollen – bis zum 1. April 2007 soll ein entsprechendes Gesetz vorliegen.

Das passt irgendwie nicht zusammen, findet auch Jörg Bülow, Geschäftsführer des Schleswig-Holsteinischen Gemeindetages, dem Gremium der über 1.300 Gemeinden im Land. „Das ist nicht stimmig. Vermutlich sind Textbausteine aus dem Entwurf der gescheiterten rot-grünen Koalition erhalten geblieben“, sagt er. „Auf jeden Fall ist das eine Frage, über die wir mit der neuen Regierung reden müssen.“

Wichtiger als die Frage nach Strukturen ist für den Gemeindetag, welche Aufgaben die kommunale Selbstverwaltung übernehmen muss. Das Modell der Industrie- und Handelskammer (IHK) Kiel lässt Bülow darum kalt: „Was durch größere Kreise verbessert werden soll, ist nicht klar.“

Andere nehmen den IHK-Vorschlag (siehe links) ernster – auch Wirtschaftsvertreter. Es ist kein Zufall, dass sich besonders die strukturschwache Westküste zu Wort meldet. Verleger Sönke Boyens ließ sich von seiner „Dithmarscher Landeszeitung“ zitieren: „Wir sehen in einer Zusammenlegung bestehender Kreise für die Wirtschaft dieser Region existenzielle Gefahren, für die Bürgerinnen und Bürger unüberwindbare Mehrbelastung und einen enormen Verlust an Identifikation.“ Andere, etwa Dithmarschens Landrat Jörn Klimant und Rainer Bruns, Geschäftsführer des Unternehmensverbandes Unterelbe- Westküste, sind ebenfalls wenig begeistert vom IHK-Vorschlag: Da ist er wieder, der Gegenwind gegen jeden Versuch, an den Strukturen zu rütteln.

Entsprechend vorsichtig formuliert Schwarz-Rot im Koalitionsvertrag: Landesaufgaben müssten überprüft und die Verwaltungen „professionalisiert“ werden.

Dennoch geht der Trend langfristig zu Zusammenschlüssen – aus Kostengründen. Gemeinden kooperieren bereits, der Rendsburger Bürgermeister träumt davon, seine Stadt mit dem Umland zu vereinigen, Kreise legen Aufgaben zusammen – was zwischen Schleswig-Holstein und Hamburg passiert, läuft parallel auf der unteren Ebene. Allerdings schön geruhsam: So eilig hat Schleswig-Holstein es nicht, in Hamburg anzukommen.

Esther Geißlinger