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■ Der Tag X für die Atomindustrie in GorlebenWir sind wieder da – Wann geht ihr zum Teufel?

Transparente hängen über der Hauptstraße Lüchow, ein Ministerpräsident muß öffentlich sagen, daß er sich von Führungskräften der deutschen Industrie provoziert fühlt, eine Ministerin verhandelt in einem Atomkraftwerk: So sieht der Atomstaat Deutschland aus im Sommer 1994. Der Anlaß selbst ist kaum der Rede wert: Ein paar abgebrannte Brennstäbe sind in einen unglaublich teuren und immer wieder überprüften Transportbehälter verpackt worden. Dort liegen sie nicht ganz, aber doch ziemlich sicher.

Schon die bloße Ankündigung jedoch, sie sollten nun nach Gorleben gefahren werden, hat eine Grundwelle von politischem Widerstand ausgelöst. Plötzlich ziehen Militante an der Basis und Regierungsmitglieder am selben Strick. Sie wollen das wahrscheinlich gar nicht, aber sie tun es. Proteste und Straßenblockden verleihen den schon angekündigten Bonner Verhandlungen um die Zukunft der Atomenergie Gewicht, machen sie vielleicht nach der Bundestagswahl überhaupt wieder möglich. Und die nächsten Aktionen auf der Straße andererseits gewinnen mit jeder Gesprächsrunde der Politiker und Industrievertreter ein Forum öffentlicher Aufmerksamkeit, das weit über den Kreis der Aktivisten hinausreicht.

Unter den Gegnern der Atomenergie ist der Streit um Kompromisse und richtige Linien damit nicht beendet. Er muß sogar weit gründlicher geführt werden als bisher. Nur senden die Kontrahenten in dieser Debatte ein einheitliches Signal aus: Die Atomindustrie hat keine politische Zukunft mehr in Deutschland. Kompromisse, die mit Regierungen ausgehandelt werden mögen, sind das Papier nicht wert, solange sie nicht auch von Bürgerinitiativen mitgetragen werden, die wenig Mühe haben werden, ganze Landkreise in Aufruhr zu versetzen.

Wann endlich nimmt die Atomindustrie diese schlichte Tatsache zur Kenntnis? Mühsam und offenkundig wider besseres Wissen hält zur Zeit noch ein Umweltminister die Fiktion aufrecht, etwas anderes als ein zügiger Ausstieg aus dieser Technik sei möglich. Mit viel Glück läßt sich vielleicht ein geordneter Rückzug organisieren, mehr nicht. Denn auch hartgesottene Atomkraftwerker müssen sich inzwischen vorstellen können, was geschähe, wenn sie beispielsweise den Standort ihres gehätschelten neuen Reaktors bekanntgäben. Nicht einmal ein paar alte Brennstäbe können eingelagert werden ohne Sondereinsätze der Polizei und pausenlos tagende Krisenstäbe auf allen Ebenen.

Wer glaubt, so etwas auf Dauer durchstehen zu können, setzt mindestens auf die Entmachtung ganzer Landesregierungen, wenn nicht auf mehr, nämlich auf einen totalen Atomstaat, den es zum Glück in Deutschland nie gegeben hat. Niklaus Hablützel

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