Der Super-GAU und die taz: Geigerzähler in der Redaktion

Wie keine andere Zeitung profitierte die taz vom GAU in Tschernobyl. Doch warum? Fünf Erinnerungen an eine sehr ambivalente Phase der taz.

Die Seite 4 der taz vom 5. Mai 1986 warnt vor der Entwarnung durch die Behörden Bild: taz

Die lauen Frühlingstage Anfang Mai 1986 werden für die Gründergeneration der taz auf ewig ihre Ambivalenz behalten: Reaktor- und Abo-Explosion, Katastrophe und Aufschwung, Schrecken, Lustangst und Euphorie. Die taz erlebte ihre größte Bewährungsprobe und war für viele im Land plötzlich die wichtigste und glaubwürdigste Zeitung. taz-Autor Manfred Kriener hat fünf Stimmen zur persönlichen und zur „tazächlichen“ Lage nach der Reaktorkatastrophe in der Ukraine am 26. April 1986 gesammelt und aufgeschrieben.

taz Seite 1, 30.04.1986

I. Zaggi Zügel | Der Regenschirm

Die ersten Warnungen kamen von schwedischen Wissenschaftlern, die eine erhöhte Radioaktivität gemessen hatten. Wir haben natürlich versucht rauszukriegen, was da los war. Aber ohne Internet war das wahnsinnig schwierig. Als würde man in Nordkorea recherchieren. Ich erinnere mich an die seltsamen Richtungswechsel der radioaktiven Wolke. Sie zog über Osteuropa, streifte einen Zipfel von Österreich und irgendwann überquerten ihre Ausläufer auch Berlin.

Das Wetter war sonnig und ich lag mit meiner schwangeren Frau an der Havel. Wir hatten unsere Hebamme angerufen und uns nach den Risiken erkundigt. Die Hebamme meinte, unser Kind sei „genetisch schon fertig“, da müssten wir uns keine Sorgen machen. Trotzdem haben wir einige Tetrapaks H-Milch gekauft, die vor Tschernobyl abgefüllt worden waren. Und wir haben kein frisches Gemüse mehr gegessen.

Das Wetter blieb wunderbar, bis dann irgendwann der erste Regen fiel. Wir wussten, dass jetzt die Radioaktivität ausgewaschen wird, dass es gefährlich werden könnte. Wir saßen in der Nachrichtenredaktion als Reiseredakteurin Edith reinspazierte und ihren nassen Regenschirm auf den Tisch knallte. Alle haben aufgeschrien, ob sie jetzt komplett verrückt geworden sei. Zur selben Zeit lief Spiegel-Redakteur Hans Halter, der uns regelmäßig besuchte, mit seinem Geigerzähler grinsend durch die Redaktionsflure. Er hat uns ausgemessen, ob wir noch sauber tickten.

Eigentlich hatten wir immer damit gerechnet, dass irgendwann ein Reaktor durchbrennt. Es macht wumms und alles ist vorbei, das war meine Vorstellung. Jetzt mussten wir uns klarmachen: Wir leben noch, alles geht weiter und es kommt jetzt darauf an, die gesundheitlichen und politischen Folgen der Katastrophe abzuschätzen. Die taz hat damals mehr geliefert an Informationen und Einschätzungen als alle anderen Blätter.

Unser Entsetzen über den Unfall wurde schnell abgelöst von der täglichen Arbeit. Meine persönliche Tschernobyl-Geschichte kulminierte im November, als meine erste Tochter mit einer Missbildung geboren wurde. Ich dachte zuerst, dass die radioaktive Strahlung die Ursache sein könnte. Heute weiß ich, dass dies nicht der Fall war. Und meine Tochter ist zum Glück wieder ganz gesund geworden.

ZAGGI ZÜGEL war von 1979 bis 1991 taz-Redakteur und damals Nachrichtenchef.

taz Seite 1, 02.05.1986

II. Kalle Ruch | Die Abokurve

Die Explosion passierte am 26. April 1986, fünf Tage später, am 1. Mai stand ich vor dem Reichstag auf der DGB-Kundgebung. Die Sonne glühte und wir waren guter Dinge, wir dachten nicht an den Fallout, dass Radioaktivität herunterkommen könnte. Ich hatte keinerlei Angst, nicht mal ein mulmiges Gefühl. Das kam erst viel später. Eine Woche danach bin ich nämlich nach Polen gefahren und plötzlich gab es dort lauter Dinge zu kaufen, die es sonst noch nie gegeben hatte, vor allem Obst und Gemüse. Die Regale waren prall gefüllt.

Als wir aus Polen zurückkamen, haben wir für unsere zwei kleinen Kinder Trockenmilch geholt, die stand dann monatelang in unserer Speisekammer herum. Wir rechneten damit, dass wegen Tschernobyl die Milch verseucht ist und aus dem Handel genommen wird. Die Trockenmilch war unsere eiserne Reserve für den Notfall. Wir haben sie nie gebraucht.

In der taz hatten wir unmittelbar vor Tschernobyl die erste große Layout- und Blattreform angeschoben. Ressorts wurden neu bestimmt, die taz entwickelte sich langsam zu einer richtigen Zeitung. Der Künstler und Werbestar Michael Schirner hatte sich dazu eine tolle Kampagne für uns ausgedacht, mit Testimonials von Promis. Dem Spiegel hatten wir eine Mini-taz beigelegt und es kamen erstaunlich viele Probeabos.

Dann passierte Tschernobyl und – die neuen Leser blieben uns allesamt treu. Der Kioskverkauf ging steil nach oben, der hatte damals noch eine ganz andere Bedeutung. Tschernobyl hat den Erfolg unserer Kampagne gesichert. Die Statistik zeigt aber, dass die Abos schon vor der Katastrophe dramatisch gestiegen waren aufgrund der taz-Reform. Und nach Tschernobyl ging es munter so weiter. Die Abos kletterten von 21.000 im November 1985 auf fast 37.000 zur Jahresmitte 1987 – ein gewaltiger Sprung.

KALLE RUCH ist taz-Geschäftsführer seit ihrer Gründung 1979.

taz Seite 1, 03.05.1986

III. Thomas Hartmann | Eine Motivationsspritze

Wir waren elektrisiert. Unsere Ökoleute hatten recht behalten, die allerschlimmsten Befürchtungen hatten sich mit dieser Reaktorexplosion bestätigt. Es klingt vielleicht zynisch, aber Tschernobyl kam für die taz genau zum richtigen Zeitpunkt. Wir hatten die Zeitung neu strukturiert: besser, lesbarer, klarer gemacht und jetzt kam dieser unglaubliche Aufschwung.

Das bittere Element dabei war natürlich die Katastrophe. Für die Zeitung war es vor allem eine ungeheure Bewährungsprobe, zumal die offiziellen Stellen die Gefahr in üblicher Weise herunterspielten. Damit wuchs die Glaubwürdigkeit der taz, aber auch die Herausforderung wurde jeden Tag größer. Wir haben wieder gespürt, warum wir diese Zeitung 1979 gegründet haben, jetzt kam es wirklich auf uns an. Tschernobyl war eine enorme Motivationsspritze. In die Berichterstattung musste ich mich nicht groß einmischen, die lief von alleine, quer durch alle Ressorts. Wie immer wenn es irgendwo geknallt hat.

Ein wenig waren wir auch von den eigenen Ängsten getrieben. Niemand wusste, wie groß die Risiken für uns persönlich waren, wie stark die Kontamination war durch die Wolke und was sie für uns bedeuten würde. Ich dachte öfter an meine Verwandten in Zwickau. Die fühlten sich natürlich überhaupt nicht bedroht, weil sie keinerlei Informationen hatten. Der Wermutstropfen für die taz war der Verlust eines unserer besten Leute. Harald Schumann, der die Tschernobyl-Berichterstattung koordiniert und lange Erklärstücke geschrieben hatte, wurde vom Spiegel abgeworben.

THOMAS HARTMANN war von 1984–1987 „freigestellter Redakteur“ (eine Art Chefredakteur) in der taz.

taz Seite 1, 05.05.1986

IV. Harald Schumann | Kein Tanzkurs

Aus heutiger Sicht ist es unvorstellbar, dass eine solche Katastrophe passiert und die Weltöffentlichkeit fünf Tage lang im Dunkeln bleibt. So war es aber. Einer meiner ersten bitterbösen Kommentare galt deshalb den Geheimdiensten. Es konnte nicht sein, dass ein Reaktor explodiert, die Hälfte seines radioaktiven Inventars, samt 1000 Tonnen schwerem Schutzdeckel in die Luft schleudert und die Dienste kriegen das nicht mit. Ich bin auch heute noch überzeugt: Sie wussten es.

Am Montag, den 5. Mai 1986, also eine Woche nach dem Unglück, begann die eigentliche Katastrophenberichterstattung. Drei Wochen lang gab es nichts anderes mehr. Ich bin mit Tschernobyl ins Bett gegangen und mit Tschernobyl aufgestanden. Eine extreme Arbeitsbelastung, die einen total absorbiert. Meinen Tanzkurs habe ich abgesagt, die Wochenenden gestrichen. Meine wichtigsten Informationsquellen waren Greennet, ein Netzwerk von Umweltgruppen und die Öko-Institute, mit denen die taz damals eine Art operative Einheit bildete. Öko-Institut, IFEU Heidelberg, Umweltinstitut München, Lutz Mez von der FU, das war der wissenschaftliche Support.

Die wichtigste Frage war: Was ist überhaupt passiert? Die beiden anderen zentralen Punkte: Wie bewältigt die Sowjetunion die Katastrophe? Und wie gefährlich ist die Lage vor Ort, für Europa, für uns? Zur Katastrophenbewältigung kamen bald erste Informationen über Evakuierungen und über den Tunnel, den sie gruben, um von unten das Halbmetall Bor als Radioaktivitätsbremse um den Reaktorkeller zu legen.

Die taz ist auf einer Glaubwürdigkeitswelle geschwommen, die mit jeder neuen Beschwichtigung durch die offiziellen Stellen noch zunahm. Atomindustrie, Politik und Atomaufsichtsbehörden hatten Angst, Tschernobyl könnte auf die deutsche Atomdebatte durchschlagen, also musste die Katastrophe kleingeredet werden. „Vor der Entwarnung wird gewarnt“ hieß dagegen die Überschrift der taz. Wir waren die einzige Zeitung, die nach Rücksprache mit den FU-Meteorologen davor gewarnt hat, am 1. Mai die Kinder raus zu lassen. Die Wolke war im Anmarsch. Und wir haben kleine Volkshochschulkurse gemacht: Was ist Rem, Sievert, Curie, Bequerel, wie misst man Radioaktivität, wie sind die Grenzwerte usw. Das war wichtig.

Leider gab es nur eine Handvoll Kollegen im deutschen Blätterwald, die wussten, was es bedeutet, wenn solch ein Reaktor explodiert und riesige Mengen an Radioaktivität in die Höhe katapultiert werden. Als Atomgegner hatten wir uns jahrelang mit einer möglichen Katastrophe befasst, das war unser Vorsprung. Als ich auf einer Doppelseite versucht habe, die Katastrophe zu rekonstruieren, hatte ich noch nicht alle Informationen. Heute weiß ich, dass es teilweise falsch war, was ich damals geschrieben habe. Trotzdem wurde der Spiegel auf mich aufmerksam und hat mir ein Angebot gemacht. Tschernobyl war ein Wendepunkt in meinem Leben.

HARALD SCHUMANN war von 1986 bis 1988 Öko-Redakteur der taz.

taz Seite 1, 06.05.1986

V. Ute Scheub | Auf der Reeperbahn

Ich bin mit dem Hamburger Fotografen Günter Zint über die Reeperbahn flaniert, als ich von Tschernobyl hörte. Wir waren beide hellauf entsetzt und haben uns dann im Fernsehen den Horror angesehen. Ich war von der taz kurzzeitig zur GAL nach Hamburg gewechselt als Pressesprecherin. Jetzt rannten uns die Mütter die Türe ein, das Telefon klingelte pausenlos. Was können wir jetzt noch essen? Wo sollen wir einkaufen? Sollen wir unsere Kinder einsperren oder draußen spielen lassen? Das waren die beiden wichtigsten Fragen – bei schönstem Wetter. In Hamburg waren die Diskussionen besonders heftig, denn wir hatten ja das Atomkraftwerk Brokdorf vor der Haustür.

Tschernobyl war eine bittere Bestätigung unserer jahrelangen Berichterstattung. Aber jetzt ging es nicht um Rechthaberei. Jetzt ging es um Strahlenwerte. Ich weiß nicht mehr, welches Institut sie uns geschickt hat. Jedenfalls sammelten wir bei der GAL die Bequerelwerte von Lebensmitteln, um die Armada der aufgescheuchten Mütter zu informieren.

Die taz war in dieser Zeit unsere wichtigste Informationsquelle. Sie war die einzige Zeitung, die ständig die Strahlenwerte gebracht hat und die auch als erste versucht hat, den Unfall zu rekonstruieren. Durch Tschernobyl habe ich gemerkt, dass ich eigentlich viel lieber Autorin bin als Pressesprecherin und bin dann zurückgewechselt in meine alte Rolle als Schreiberin.

UTE SCHEUB ist taz-Mitgründerin und arbeitete 1986 als GAL-Pressesprecherin.